Neunerlei - eine Weihnachtserzählung
eine beruhigende Kühle, wie ein kaltes |21| Tuch auf einer fieberheißen Stirn. Ich hingegen bin klein und rundlich, und als Kind riefen mich die anderen Rotbäckchen, wie das blonde Mädchen mit dem blauen Kopftuch auf der Flasche, obwohl ich rotes Haar habe, aber leider nicht den milchweißen Teint der Rothaarigen, sondern eben gesunde Apfelbacken. So kam es, dass in meiner Apotheke der Rabenhorster Rotbäckchensaft von Beginn an in einer unauffälligen Ecke stand.
Am Sonntagabend, nachdem der Kunde mit der seltsamen Frage auf mich zugekommen war, holte ich mein Botaniklexikon und blätterte noch lange darin herum. In der Nacht saß ich nicht neben meinem Vater auf dem Sofa. Diesmal wuchs aus meinem Traum ein Myrtenbaum, klein und übersät mit weißen Blüten, die einen betörenden Duft verströmten. Aus den Blüten wurden grüne Beeren und ich pflückte sie.
In dieser Nacht taumelten die absonderlichsten Gedanken durch meinen Kopf, und plötzlich wusste ich wieder, woher ich das Körnchen kannte. Ich sah mich selbst in der Küche des Kinderheims stehen, mit der blauen Schürze, deren Bänder zweimal um meinen Leib reichten. Ich befüllte das Bouillon-Säckchen mit Pimentkörnern. Dieses Säckchen war ein Netz, in das Möhren, Sellerie, eine Zwiebel, Lauch und Lorbeerblätter gepackt wurden und das die Brühe kräftig machen sollte. In jeder Woche hatte ein anderer Küchendienst, und wenn man älter war und vertrauenswürdig, durfte man die anspruchsvolleren Tätigkeiten übernehmen, und dazu gehörten das Abwiegen und Befüllen des Bouillon-Säckchens.
Ich lag noch lange wach und freute mich, das Tor zu dieser Erinnerung gefunden zu haben, da sie zu den angenehmeren Bildern meiner Vergangenheit gehörte. Doch irgendwann landete ich erneut bei der Frage, warum |23| jemand ein Gläschen mit Piment auf ein Grab stellte.
Am nächsten Tag fühlte ich mich aus irgendeinem Grund beinahe beschwingt, arbeitete fast ununterbrochen und konnte so das von meinem Verlag in Auftrag gegebene Heft ›Umkehr des Herzens‹ zwei Tage früher als vereinbart liefern.
Des Menschen Sehnsucht nach dem guten Ende ist tief verwurzelt, so tief, dass er bereit ist, Geld auszugeben, um sich ein paar Stunden in der Illusion zu wiegen, dass
es
möglich ist. Eine unsinnige Komödie im Kino entführt uns auf einen anderen Planeten, den der bis an ihr Lebensende Glücklichen. Die Liebesgeschichte hört auf, wenn zwei sich
gekriegt
haben – obwohl wir alle wissen, dass es dann erst richtig losgeht. Aber das verschweigen wir und wollen auch, dass andere uns das verschweigen.
Natürlich verdiente auch ich meine Brötchen damit, die Sehnsucht meiner Leserinnen nach Schönheit und Harmonie, ewiger Liebe und Treue zu bedienen. Bei mir gab es auch noch die Bösen, die am Ende ihrer gerechten Strafe zugeführt wurden. Und manchmal bereuten sie und wurden gut. Platz für Grautöne gab es nicht, im Grunde war es eine gnadenlose Wahrheit, die ich verkaufte, eine mittelalterliche Welt voller Engel und Dämonen.
|24| Von meinen preisgekrönten Erzählungen wurden seinerzeit – bevor der Rest eingestampft wurde – ein paar hundert Exemplare verkauft. Es waren Geschichten, wie sie das Leben schrieb, von Kindern, die in Heimen aufwuchsen und zeit ihres Lebens heimatlos blieben; von Freundschaften, die an der Oberfläche dahindümpelten; vom Reigen der Liebe, der sich niemals schloss.
Dabei hatte alles so harmlos begonnen, damals, als ich das Thema meiner Magisterarbeit wählte: ›Die Bedürfnisse des Individuums im Spiegel der Romane von Marlitt und Courts-Mahler‹. Als ich im Anschluss an die Magisterarbeit rein aus Vergnügen im Urlaub ›Sommer in Rosenau‹ schrieb und das Manuskript an einen Verlag für Heftromane schickte, wurde es prompt veröffentlicht, und mein Doppelleben als Tamara Sommerblum begann.
Die Geschichten hatten sich seit Marlitt kaum verändert. Natürlich streute man heute gerne ein paar Alleinerziehende ein, um die aktuellen Zielgruppen besser ins Visier zu nehmen. Und während es früher die zarten, unschuldigen Gouvernanten waren, die allen Widrigkeiten zum Trotz ihren blaublütigen Helden fanden, so war es heute die unverheiratete, aber talentierte Mutter eines kleineren Kindes, die unverschuldet ihre Arbeit verlor, und am Ende entpuppte |25| sich der Sohn des Chefs (oder der Chef selbst) als kinderfreundlicher Ersatzvater, der nichts lieber tat, als seine Penthousewohnung aufzugeben und eine Gründerzeitvilla mit
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