Der Todesstoss
DER TODESSTOSS
Die Deutsche Bibliothek
CIP-Einheitsaufnahme
Hohlbein, Wolfgang: Die Chronik der Unsterblichen
vgs
Buch 3. Der Todesstoß. 2001
SBN 3-8025-2771-2
© Egmont vgs verlagsgesellschaft,
Köln 2001
Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat: Frank Rehfeld
Produktion: Annette Hillig
Umschlaggestaltung: Alex Ziegler, Köln
Titelfoto: © Simon Marsden
Satz: Greiner & Reichel, Köln
Druck: Pustet, Regensburg
ISBN 3-8025-2771-2
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»Sie sind dort unten, auf der anderen Seite des Hügels.
Vielleicht zwanzig, möglicherweise auch mehr.«
Abu Duns Atem ging so ruhig, als wäre er gerade aus einem
tiefen, erholsamen Schlaf erwacht. Dabei hatte er die gut
hundert Meter den steilen, mit tückischem Geröll übersäten
Hang hinab im Laufschritt zurückgelegt, und das mit einer
Behändigkeit, die man einem Mann seiner Statur und Masse
niemals zugetraut hätte. Sein Gesicht verfinsterte sich, als er
fortfuhr: »Du hattest Recht. Sie verbrennen wieder Hexen.«,Andrej sagte nichts. Was auch? Er hatte gewusst, dass er Recht
hatte, schon als sie den flackernden roten Widerschein des
Feuers am Nachthimmel gesehen hatten, und lange bevor Abu
Dun losgelaufen war, um sich mit eigenen Augen zu
vergewissern, was auf der anderen Seite des Hügels geschah.
Vielleicht lag es an seinen schärferen Sinnen, dass er den
Gestank von brennendem Menschenfleisch lange vor dem
Piraten wahrgenommen hatte. Er war dem Tod so oft begegnet,
dass er seine Nähe deutlicher spürte als andere.
»Wie viele?«, fragte er nach einer Weile.
Abu Dun hob die Schultern. Mit seiner schwarzen Kleidung
und dem ebenholzfarbenen Gesicht war der Nubier selbst für
Andrejs scharfe Augen kaum zu erkennen. Er ahnte die
Bewegung mehr, als dass er sie sah.
»Ich habe zwei Scheiterhaufen gezählt«, sagte Abu Dun.
»Wie viele sie daran gebunden haben, konnte ich nicht
erkennen.« Er spie aus.
»Diese Unmenschen! Sie nennen uns Barbaren, aber sie selbst
tun Dinge, vor denen selbst der Teufel zurückschrecken
würde.«
»Der Teufel vielleicht, aber du?«, fragte Andrej. »Ich war
einmal auf einem Schiff, auf dem ich Dinge gesehen habe, die
selbst den Teufel erschreckt hätten. Wie hieß doch gleich sein
Kapitän?«
Abu Dun beantwortete die Anspielung auf seine
Vergangenheit mit einem Grinsen, das seine Zähne in der Nacht
fast unnatürlich weiß aufblitzen ließ. »Ich habe auch nie
behauptet, besser zu sein als du«, sagte er.
»Das stimmt«, erwiderte Andrej. »Du bist der ehrlichste Pirat,
den ich kenne.«
»Ich war Kaufmann«, verbesserte ihn Abu Dun.
»Nur, dass du lebende Waren verkauft hast, ich weiß.«
»Jedenfalls habe ich meine Waren pfleglich behandelt und sie
nicht lebendig gebraten«, verteidigte sich Abu Dun. Er grinste
erneut, und auch Andrej lachte leise, aber nur für einen ganz
kurzen Moment. Zugleich fragte er sich, wieso sie eigentlich so
ausgelassen waren, angesichts der unaussprechlichen
Gräueltaten, die gerade auf der anderen Seite des Hügels
stattfanden. Aber vielleicht war es der einzige Weg, um diese
Geschehnisse überhaupt zu ertragen.
»Und?«, fragte Abu Dun nach einer Weile. »Was tun wir?«
»Was wir tun?«
Abu Dun machte eine Kopfbewegung in Richtung des roten
Widerscheins am Himmel. »Gehen wir unserer Wege und tun
so, als hätten wir nichts bemerkt?«
»Was sonst? Du hast es selbst gesagt: Es sind zwanzig,
vielleicht sogar dreißig.«
»Dreißig Bauerntölpel und hysterische Weiber.« Abu Dun
machte eine wegwerfende Geste. »Keine Gegner für uns. Sie
werden weglaufen, wenn wir die ersten zwei oder drei
erschlagen haben.«
»Ich verstehe!« Verbitterung lag in Andrejs Stimme. »Du
meinst, wir erschlagen zwei oder drei Unschuldige, um zwei
oder drei Unschuldige zu retten.«
»Du weißt sehr genau, dass das ein Unterschied ist,
Hexenmeister«, antwortete Abu Dun immer noch grinsend, aber
mit deutlich schärferer Stimme. »Du könntest dich ja auch in
eine Fledermaus verwandeln und sie erschrecken.«
»Und ihnen damit einen Grund liefern, um noch mehr
Scheiterhaufen aufzustellen«, sagte Andrej kopfschüttelnd.
»Außerdem kann ich mich nicht in eine Fledermaus
verwandeln, wie oft muss ich dir das noch erklären?«
»Hast du es denn je ernsthaft versucht?«, beharrte Abu Dun.
»Hast du je ernsthaft versucht, dich in einen vernünftigen
Menschen zu verwandeln?« Andrej machte eine Kopfbewegung
in die Richtung, in der sie ihre Pferde zurückgelassen
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