Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neva

Neva

Titel: Neva Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Grant
Vom Netzwerk:
gleitet zur Seite. »Ein Lotse führt dich durch den Tunnel.« Der Fremde mit der Baseballkappe tritt zur Seite und geht.
    Sämtliche Lichtquellen befinden sich ein gutes Stück hinter mir. Während sich meine Augen noch an das dämmrige Grau gewöhnen, ergreift mich tief im Inneren bereits Panik. Ich höre jemanden auf mich zukommen. »Sag was, damit ich dich finden kann.« Die Stimme ist nah, tief und definitiv männlich.
    »Ich bin hier«, antworte ich. Ich strecke die Arme aus und bin überrascht, als ich jemanden berühre.
    »Okay. Folge mir.« Er sucht meine Hand und legt sie sich auf die Schulter. Als er sich in Bewegung setzt, tritt er mir mit der Ferse versehentlich gegen das Schienbein. »Entschuldige.«
    Wir gehen ein paar Schritte, und ich trete ihm in die Hacken.
    »Nicht so nah«, sagt er.
    Um uns herum ist nichts als schwarze Finsternis. Ich hole tief Luft, um meine Furcht zurückzudrängen. Es darf nicht sein, dass die Dunkelheit mir meine Freiheit und Sanna die Hoffnung raubt.
    Endlich finden wir unseren gemeinsamen Rhythmus und gehen ohne Zwischenfälle weiter. Der Gang ist sehr schmal. Sobald ich mich ein paar Zentimeter nach links oder rechts neige, schramme ich gegen Stein oder Metall. Die Dunkelheit macht mir zu schaffen. Meine Haut ist feucht von Schweiß. Ich konzentriere mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, doch unwillkürlich geht mein Atem schneller und schneller.
    »Wohin gehen wir?«, frage ich.
    »Quer durch und auf der anderen Seite ins Freie.« Er stößt ein kurzes Lachen aus.
    »Aber wie …?«
    »Kann ich hier etwas sehen?«, beendet er meinen Satz. »Dies ist mein Revier. Ich kenne die Tunnel besser als die Straßen der Stadt.«
    »Ich wusste gar nicht, dass es hier unterirdische Gänge gibt«, erwidere ich atemlos. Mir wird schwindelig, als die Panik mich wieder erfasst.
    »Sie sind schon immer da gewesen«, gibt der Lotse zurück, und sein nüchterner Tonfall wird etwas freundlicher.
    Nicht an die Dunkelheit denken. »Wohin führen sie?«, erkundige ich mich und bemühe mich, ruhig zu atmen.
    »Sie gehören zum alten U-Bahn-System der Stadt. Damals haben sie die Haltestellen miteinander und mit den Zugängen von der Straße verbunden.«
    »Was?« Es gibt also nicht nur Tunnel unter diesen Ruinen, es hat sogar einmal eine komplette Untergrundbahn gegeben!
    »Stimmt ja. Ich habe ganz vergessen, dass man euch das heute nicht mehr beibringt.« Sein Haar streicht über meine Hand auf seiner Schulter. Ich glaube, er schüttelt den Kopf. »Die Regierung löscht unsere wahre Geschichte Stück für Stück.«
    Ich weiß, wer sie löscht. Es gibt noch so vieles, was mein Vater mir nie gesagt hat – niemandem je gesagt hat. Er ist gar nicht der Minister für Altgeschichte. Er ist der Minister für frei erfundene Geschichte.
    »Wie weit ist es noch?« Ich stolpere und rutsche von seiner Schulter ab. Er packt meine Hand und bewahrt mich vor dem Sturz.
    »Noch ein gutes Stück. Bleib dicht hinter mir.« Er plaziert meine Finger wieder auf seiner Schulter. »Wir sollten besser still sein. Hier gibt es überall alte Luftschächte und Gitter, die sich zur Straße öffnen.«
    Meine Augen versuchen noch immer, sich an die Finsternis anzupassen, um wenigstens etwas wahrzunehmen. Doch um mich herum herrscht nur intensive Schwärze. Für mich fühlt es sich fast so an, als hätte die Dunkelheit einen festen Körper. Ich ersticke und werde gleichzeitig erdrückt. Wir bewegen uns abwärts. Ich darf mir gar nicht vorstellen, dass ich sogar noch tiefer unter die Erde geführt werde. Die Luft wird kühler. Ich wage einen tiefen Atemzug und kann spüren, dass wir den engen Tunnel verlassen haben und in einen offeneren Raum getreten sind. Die neue Weite scheint das Geräusch unserer Schritte zu schlucken. Ein Lüftchen zupft an meinen Haarspitzen. Der Boden ist ebener, kein Schutt, kein Sand mehr. Es geht leichter voran, aber es macht mich nervös, nicht zu wissen, was um mich herum ist. Die Dunkelheit kommt wieder näher. Wenn der Kontakt zu ihm abreißen würde, wäre ich verloren. Niemals würde ich aus diesem Labyrinth hinausfinden.
    »Ganz ruhig«, sagt der Mann. »Es ist nicht mehr weit.«
    In meiner Fantasie male ich mir aus, wie dieser Ort wohl aussehen mag. Ich gebe ihm eine gewölbte Decke und eckige Fliesen auf dem Boden. Ich streiche den Tunnel weiß und leuchte jeden noch so fernen Winkel aus.
    Dann glaube ich, ein Fleckchen Licht vor mir zu sehen. Licht! Ich konzentriere mich

Weitere Kostenlose Bücher