Neva
muss, um sie auf Trab zu bringen. »Braydon steckt in Schwierigkeiten.«
Und schon ist sie auf den Beinen. Wir verständigen uns wortlos, wie es nur zwei Menschen können, deren Schicksale so eng miteinander verbunden sind wie unsere. Sanna folgt meinen Anweisungen, als wir die Kissen so drapieren, dass es aussieht, als würden wir noch im Bett liegen. Ich öffne die Türen zum Balkon, der zum hinteren Garten hinausgeht. Von hier aus kann ich die Garage sehen, und ich erkenne, dass der Van unsere einzige Chance zur Flucht ist.
Ich steige über das Geländer, Sanna tut es mir gleich. Ich bücke mich, greife nach dem unteren Sims, lasse vorsichtig meine Beine hinabhängen und baumele nun ungefähr einen Meter über dem Boden. Dann lasse ich los und lande mit einem dumpfen Laut. Sofort springe ich auf die Füße und strecke Sanna die Arme entgegen, um sie aufzufangen. Ein seltsamer Gedanke schießt mir durch den Kopf: Ich muss sie beschützen, weil sie schwanger ist. Vielleicht ist sie das ja gar nicht. Vielleicht haben wir sie gerade rechtzeitig befreit.
Ich fange sie auf, und wir rennen auf die Garage zu. Ein Motor springt an. Blitzschnell reiße ich Sanna zu Boden und werfe mich ungeschickt über sie, während ich auszumachen versuche, in welche Richtung der Wagen fährt. Ich höre das Knirschen von Kies, bevor das Motorengeräusch leiser wird und verstummt. Bedeutet das, dass der Polizist nun weg ist? Ich schaue mich nach einem anderen Fluchtweg um, doch ich kann nicht riskieren, dass wir in einer Sackgasse landen. Wir hasten zur Garage und steigen in den Transporter. Ich starte den Motor, schiebe den Hebel der Automatik hin und her und kneife die Augen zusammen, um im Zwielicht erkennen zu können, wann das D für »Drive« aufleuchtet. Bisher habe ich meinen Eltern beim Fahren immer nur zugesehen; noch nie habe ich selbst hinterm Steuer gesessen. Ich tippe mit dem Fuß aufs Gas, und der Wagen macht einen Satz und stoppt. Nun trete ich behutsamer aufs Pedal und lenke das Auto vorsichtig über den Sandweg, der zur Auffahrt führt.
»Was ist mit Braydon?«, will Sanna wissen und drückt die flache Hand gegen die Windschutzscheibe, als wir ihn beide gleichzeitig entdecken. Er steht an der Eingangstür und starrt uns mit weit aufgerissenen Augen an.
»Wir treffen ihn später wieder«, schwindele ich. »Runter mit dir. Bleib außer Sicht.« Mit der freien Hand drücke ich sie hinunter in den Fußraum, damit sie nicht sieht, wie Braydon die Verfolgung aufnimmt. Ich trete das Gaspedal voll durch, so dass es fast in Kontakt mit dem Straßenbelag kommt. Einen Augenblick überlege ich, ob ich Braydon überfahren sollte, aber ich darf keine Zeit verlieren. Ihn dem Kiesboden gleichzumachen würde mir ohnehin nichts mehr bringen. Für mich ist er bereits gestorben.
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30 . Kapitel
D ie Nacht bricht über uns herein, und die Kälte ist in mir, entströmt mir. Ich kann nicht fassen, wie dumm ich gewesen bin. Vom ersten Augenblick an hat mein Instinkt mich gewarnt, dass ich Braydon nicht trauen darf. Dann kam der Kuss. Dieser schreckliche, verräterische Kuss. Bei dem Gedanken allein muss ich mir mit dem Hemdsärmel die Lippen abwischen. Das ist sein Hemd! Ich möchte mir nicht nur seine Kleider vom Leib reißen, sondern auch jeden Fetzen Haut, den er berührt hat.
Ich blicke in den Rückspiegel. Sanna schläft hinten im Van. Sie darf von Braydons Verrat niemals erfahren – es würde sie umbringen. Ich versuche mich darauf zu konzentrieren, dass ich heute Nacht abhauen werde. Ich nehme Sanna mit, und wir lassen Heimatland, all die Toten und Vermissten und die Lügen hinter uns. Ich werde Braydon und die letzten Tage aus meiner Erinnerung streichen. Wenn ich die Protektosphäre überwinde, wird es wie eine Wiedergeburt sein. Diese Vorstellung tröstet mich ein wenig.
Vorher muss ich einen letzten Zwischenstopp einlegen. Ich parke den Transporter in der Straße hinter meinem Haus. Ich lasse Sanna schlafen und decke sie so zu, dass man nicht allzu viel von ihr erkennen kann. Wenn Braydon sich mit der Polizei in Verbindung gesetzt hat, sind wir nirgendwo sicher. Dennoch muss ich es riskieren. Ich muss meine Mom warnen, muss sie darüber informieren, was die Regierung tut. Ich beobachte das Haus, bis ich mir sicher bin, dass sie allein ist. Dann krieche ich unter dem baufälligen Zaun hindurch, der unseren Garten eingrenzt. Ausnahmsweise bin ich mal froh darüber, dass kaum noch etwas repariert wird. Lautlos öffne ich
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