Neva
Händchen. Ich verziehe mich auf einen der leeren Plätze im hinteren Teil. Mir fällt wieder die Einladung meiner Großmutter ein. Das ist nun meine einzige Option. Heute Nacht werde ich verschwinden und all das hier hinter mir lassen.
Die Sonne steht hoch am Himmel, als wir endlich bei Braydon ankommen. Er versteckt den Van in einer Garage hinter dem Haus. Nacheinander betreten wir die Küche, und keiner von uns weiß, was wir als Nächstes unternehmen sollen.
»Es tut mir leid, Sanna«, sage ich und lasse mich auf einen der Küchenstühle fallen.
»Was sollte dir denn leid tun?« Sie blickt auf ihre nackten Füße, die nun vor Ruß fast schwarz sind. »Du und Braydon, ihr seid gekommen, um mich zu holen.« Sie lacht und wackelt mit den Zehen. Das Lachen klingt seltsam nach allem, was zwischen uns vorgefallen ist. »Ich wusste es. Neva schreibt mich nicht einfach ab. Sie lässt nicht zu, dass ich verschwinde.«
Braydon und ich wechseln einen Blick. Ich sehe ihm an, dass er an die vergangene Nacht denkt. Sie kommt mir wie eine ferne Erinnerung vor, wie die Illusion der echten Sterne jenseits der Protektosphäre.
»Fast hätte ich es vergessen«, meint Braydon nach einem weiteren Moment unbehaglichen Schweigens. Er schiebt die Hand in die Jeanstasche und zieht eine lange dünne Kette heraus. Mein Schneeflockenanhänger funkelt, als er sich in der Luft dreht. »Nicht, dass du den vergisst.« Er legt mir die Kette um den Hals. Ich senke den Blick, um nicht zu verraten, was in mir vorgeht. Seine Finger streichen über meine Wange, und ein winziger Funke dessen, was ich vergangene Nacht gefühlt habe, erfüllt mich.
»Danke, dass du darauf aufgepasst hast«, entgegne ich.
Wachsam mustert Sanna uns. Sie hat die Brauen zusammengekniffen. Erinnert sie sich überhaupt daran, dass sie Braydon und mich beim Küssen ertappt hat? Einen Moment lang wirkt sie verwirrt, dann zieht sie Braydon näher an sich. »Unsere Neva ist einfach unbezahlbar, nicht wahr?«, sagt sie und lächelt, bis ihr Gesicht unnatürlich verzerrt wirkt.
Ich betaste meinen Anhänger und wünsche mir, ich könnte mich auflösen.
Ich stehe eine Ewigkeit unter der kalten Dusche. Ich habe Sanna vorgelassen. Sie hatte mehr abzuschrubben als ich. Ich verwende Seife und Shampoo, aber ich kann den Rauch immer noch riechen. Kann genau spüren, wo die Ärztin mich untersucht hat. Mein Arm ist rot und aufgeschürft, wo ich versucht habe, die schwarze Tinte abzuschaben. Die Nummer ist nach wie vor sichtbar. Sanna tritt ein, und ich höre mit dem Schrubben auf. Blut tropft wie in winzigen Tränen von meinem Arm – wie damals, als ich mit fünf Jahren vom Fahrrad fiel und mir das Knie aufgeschrammt habe.
Sanna dreht das Wasser ab und reicht mir ein Handtuch.
Wir ziehen Sachen von Braydon an. Sie nimmt eins seiner weißen Anzughemden, ich nehme das Hemd, das er zur Dunkelparty getragen hat. Ich suche uns beiden Cargohosen, die wir mit Gürteln auf der Hüfte halten. Sanna streift einen großen blauen Wollpullover über, den sie in einem der Schränke entdeckt. Obwohl sie sich außerdem einen Schal um die Schultern legt, zittert sie noch immer.
»Geh ins Bett«, sage ich ihr. Daraufhin lässt sie mich in Braydons begehbarem Schrank allein. Seine Lederjacke hängt an einem Haken. Ich berühre das rauhe, rissige Leder, nehme die Jacke herunter und drücke sie an mich. Sie riecht nach ihm. Ich vergrabe mein Gesicht darin und verliere mich in der Erinnerung an unsere gemeinsame Fahrt, als wir auf der Maschine saßen und wie eins waren, als der Wind an uns vorbeirauschte und sich vor uns die endlose Straße erstreckte. Ich atme seinen Duft ein, doch plötzlich nehme ich den Rauchgeruch wahr. Wieder sehe ich die Flammen, dann den Polizisten, der mich umbringen wollte. Und ich sehe Braydon, der mich verteidigt und die Waffe auf ihn richtet. Diese Erinnerung sollte mich trösten, tut sie aber nicht. Sein Blick war so kalt und hart wie der des Polizisten, als er mich gewürgt hat. Meine Lider öffnen sich, und ich werfe die Jacke zu Boden.
Sanna und ich rollen uns in Braydons großem Bett zusammen. Braydon hat die Vorhänge zugezogen, aber sie sind alt und fadenscheinig und halten kaum das Licht ab. Wir kuscheln uns aneinander, um uns zu wärmen und die Furcht zu vertreiben, dass jemand kommen und uns verhaften könnte. Sannas Haar duftet nach Erdbeershampoo. Ich lege meinen Arm um ihre Taille und frage mich unwillkürlich, ob in ihrem Bauch ein von der
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