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Nibelungen 06 - Die Hexenkönigin

Titel: Nibelungen 06 - Die Hexenkönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander (Kai Meyer) Nix
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Jorin auf, aber sein Schatten fiel diesmal in die andere Richtung, und der Junge war dankbar dafür. Die beiden Raben erstarrten, nur um sich einen Moment später wie auf einen geheimen Befehl hin von den Schultern zu erheben und hinauf in die Lüfte zu steigen. Dort verschwanden sie zwischen den Baumwipfeln.
    Eine behandschuhte Hand streckte sich Jorin entgegen. Der Junge zuckte zurück und trieb dabei ein halbes Dutzend Dornen in seinen Rücken. Noch immer sagte der Mann kein Wort, nur sein Atem ertönte dumpf aus dem Inneren des Helmes.
    Er atmet, durchfuhr es Jorin, also ist er ein lebender Mensch! Doch was, schalt er sich dann, wußte ein Kind wie er schon über die Masken der Götter? Möglich, daß sie die Menschen bis in jede Einzelheit nachahmten.
    Die ausgestreckte Hand schwebte über ihm, er mußte sie nur ergreifen. Ihr schwarzer Umriß vor dem blauen Morgenhimmel war ihm Drohung und Hoffnung zugleich. Doch die Dornen nahmen ihm die Entscheidung ab. Jorin ertrug den Schmerz nicht länger, und ehe er sich versah, hatte er die Hand gepackt und ließ sich von dem Riesen aus den Büschen ziehen.
    Ganz kurz durchzuckte ihn der Gedanke, dem Mann entkommen zu können. Sich einfach herumzuwerfen und davonzulaufen. Dann aber dachte er sich, daß er längst hätte tot sein können, wenn der Reiter es gewollt hätte.
    »Weißt du, welche Strafe der König Pferdedieben auferlegt?« drang eine scharfe Stimme unter dem Helm hervor.
    Jorin fuhr zusammen. Angstvoll nahm er an, daß mit »König« der Reiter selbst, König Pest, gemeint war. Er schüttelte den Kopf, unfähig, auch nur einen Ton herauszubringen.
    »Er läßt sie hängen«, sagte der Mann. »Und wenn der Dieb mehr als einmal gestohlen hat, wird er von vier starken Gäulen zerrissen.« Der Mann beugte sich mit einem Ruck vor, bis das Stahlgesicht des Helmes nur noch wenige Fingerbreit vor Jorins Nase schwebte. »Hast du mehr als einmal gestohlen?«
    Jorin dachte, daß er auf der Stelle tot umfallen müsse. Jetzt und hier.
    Hinter den Sehschlitzen brodelte die Dunkelheit. »Sag mir die Wahrheit, Junge!«
    »Nein!« preßte Jorin hervor. Es stimmte, er hatte noch nie etwas gestohlen, das größer war als ein Apfel. Und ganz bestimmt keine Pferde.
    Der Fremde blickte ihn aus unsichtbaren Augen an, als forschten sie in Jorins Kopf nach Beweisen seiner Aufrichtigkeit.
    Endlich richtete der Mann sich wieder auf. »Gut«, sagte er. »Wie ist dein Name?«
    »Jorin, Herr. Jorin Sorgebrecht.«
    »Bist du krank?«
    Jorin dachte daran, daß der Schatten des Reiters ihn berührt hatte. »Nein, Herr«, sagte er und hoffte, daß es die Wahrheit war.
    »Zieh dein Wams aus!«
    Der Junge befolgte den Befehl, und der Mann unterzog seine Achselhöhlen und seinen Hals einer eingehenden Betrachtung. Dann nickte er langsam. »Mir scheint, es ist wahr, was du sagst. Gut für dich.«
    Die knappe Bemerkung jagte Jorin einen eisigen Schauer über den Rücken. Er ahnte, was geschehen wäre, wenn er gelogen hätte.
    »Wo kommst du her?« fragte der Mann. »Gibt es ein Dorf hier in der Nähe?«
    »Ich glaube nicht, Herr«, sagte Jorin und zog geschwind sein Hemd über. »Wir sind Flüchtlinge. Wir kommen aus der Stadt.«
    »Wen meinst du mit ›wir‹? Deine Eltern und dich?«
    »Ja, Herr, und noch einige andere.«
    »Wie viele seid ihr?«
    Jorin hatte nie gelernt, weiter als bis zehn zu zählen. Jetzt überlegte er angestrengt. »Ungefähr dreimal zehn«, sagte er dann, »ein paar mehr, vielleicht.«
    »Und wo ist euer Lager?«
    Geschwind hob Jorin den Arm und zeigte in die Richtung, aus der er gekommen war. Nur einen Augenblick später fiel ihm ein, daß er damit vielleicht das Todesurteil über die ganze Gruppe gesprochen hatte. Bleich und erschrocken ließ er die Hand wieder sinken.
    Der Mann schien seine Gedanken zu lesen. »Keine Angst, Jorin Sorgebrecht. Weder dir noch den deinen will ich Böses.«
    Jorin war keineswegs überzeugt, daß er daran glauben konnte, doch zum Schein nickte er hastig.
    »Ich verlange nur eine Auskunft, nicht mehr«, fuhr der Mann fort. »Vielleicht kannst du mir helfen.«
    »Ich bin Euer Diener, Herr.«
    Der Fremde neigte den Helm, als stimmten ihn Jorins Worte milde. »Ich bin auf der Suche nach einem Mädchen mit langem goldenen Haar. Jemand ist bei ihr, aber ich weiß nicht, wie er aussieht. Sie reiten auf schwerfälligen Pferden, Ackergäulen wahrscheinlich. Hast du die beiden gesehen?«
    Jorin spielte kurz mit dem Gedanken, ja zu sagen, um den

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