Nibelungen 06 - Die Hexenkönigin
überzeugt, daß der Vorfall im Hohlweg nur ein Streich wilder Winde gewesen war. Sie hatte es aufgegeben, mit Jodokus darüber zu streiten; er würde niemals von seiner Überzeugung lassen.
»Sie hat dich mit ihrer Hexerei umgarnt«, behauptete Jodokus beharrlich, »genau wie deine Mutter.«
Kriemhild hatte ihm verschwiegen, wer ihre Mutter war, aber allmählich schien er etwas zu ahnen. Zwangsläufig mußte er sich fragen, weshalb die legendäre Berenike ihren Hexenhort verlassen hatte, um einem jungen Mädchen die Träume zu deuten. Für ein einfaches Edelfräulein, eine angehende Hofdame, hätte sie kaum den beschwerlichen Weg nach Worms auf sich genommen.
Kriemhild versuchte erneut, ihre Gefühle zu erforschen, doch jedesmal, wenn sie die Worte der Hexe durchschauen wollte, traf sie auf eine Barriere. Alles, was mit Berenike zu tun hatte, war über jeden Zweifel erhaben. Genausogut hätte Jodokus beanstanden können, daß sie die Nacht für dunkel, das Laub für grün und das Wasser eines Baches für flüssig hielt.
Natürlich bin ich im Recht, dachte sie, und die Gewißheit dieses Gedankens erfüllte sie mit wonniger Genugtuung.
Kapitel 4
er kleine Junge kauerte im Dämmer des anbrechenden Tages hinter einem Baumstumpf und wünschte sich, er wäre daheim in Würzburg geblieben. Er und seine Eltern hätten die Stadt nie verlassen dürfen. Die Familien des Flüchtlingszuges, der auf einer nahen Lichtung lagerte, hatten geglaubt, sie könnten vor der Seuche davonlaufen. Hier draußen in den Wäldern wären sie sicher, hatten sie gehofft. Es war ein Trugschluß, und Jorin Sorgebrecht hatte es als erster erkannt. Aber er war nur ein Junge, ein Kind, und niemand würde ihm glauben schenken.
Doch es war nicht die Überheblichkeit der Erwachsenen, die ihm in diesem Augenblick Sorge bereitete – es war der Schatten des Reiters, der sich von Norden her näherte. Sein Schatten, der jeden Augenblick über den Baumstumpf und über Jorin fallen würde. Sein Schatten, der den sicheren Tod verhieß.
Jorin hätte aufspringen können, aber er wußte, daß der Reiter keine Gnade kannte. Sein schwarzer Mantel fiel weit über mächtige Schultern, über Sattel und Hinterteil des Rosses. Ein langes Schwert hing an seiner Seite, und doch war es nicht die Klinge, die Vernichtung säte. Der Reiter selbst war es, eine finstere Legende, in Fleisch und Stahl gegossen. Gestaltgewordener Aberglaube. Der Herrscher ohne Hofstaat, der Regent aus dem Herzen der Nacht. König Pest.
Jorin preßte sein Gesicht enger an den Stumpf. Der würzige Duft von Rinde und Moos drang in seine Nase. Er kniff die Augen zusammen, wie er es als kleines Kind getan hatte, wenn er gehofft hatte, andere würden ihn nicht finden. Doch dies hier war kein Versteckspiel.
Der Schatten des Reiters kam näher, glitt wabernd über Sträucher und wildes Gras, über Dickicht und zerbrochene Zweige. Jorin wagte kaum mehr zu atmen. Wenn er sich jetzt zu erkennen gab, war es um ihn geschehen. Aber sterben würde er so oder so. Wer wußte schon, ob nicht einige der Flüchtlinge längst die Male der Plage unter der Kleidung trugen, ob sie die Seuche nicht mit sich schleppten wie den Geruch der Totenfeuer, der sie noch lange über die Stadt hinaus verfolgt hatte. Der Schwarze Tod war längst überall, nur verbarg er sich hier draußen hinter Bäumen und Bergen. Alle, selbst die Kinder, fühlten, daß er sie umschlich wie ein Wolfsrudel, hungrig, pirschend, auf lautlosen Pfoten.
Jorin war der erste, der ihn mit eigenen Augen sah, ihn erblickte wie einen anderen Menschen, greifbar, hörbar und doch aus einer fremden Welt. König Pest, von dem erst die Alten und plötzlich jedermann gesprochen hatte. König Pest, der Plagenbringer.
Die Hufe seines dunklen Rosses schlugen hart auf den Boden der Schneise, so daß im Umkreis die Erde erbebte. Jorin hörte das Schnauben der Nüstern, das Rascheln des schlagenden Schweifs. Hinter dem ersten trabte ein zweites Pferd, gesattelt, aber nicht beritten, geführt an einem Strick. Im Gegensatz zum Roß des Königs war es weiß und voller Anmut. Jorin dachte: Das muß die Unschuld sein, vom Bösen in feste Ketten gelegt. Der Gedanke brachte ihn trotz seiner Ängste zum Weinen.
Eine Idee nahm in ihm Gestalt an. Mit jedem Herzschlag verstärkte sich seine Entschlossenheit. Er war fast noch ein Kind, zwölf Sommer jung, aber jetzt würde er versuchen, der Welt die Erlösung zu bringen.
Der Schatten huschte mit jedem Schritt des Pferdes
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