Gregor und der Fluch des Unterlandes
1. Kapitel
G regor saß auf dem Bett und fuhr mit den Fingerspitzen über die Narben. Es gab zwei verschiedene Sorten. Die dünnen Linien, die kreuz und quer über seine Arme verliefen, stammten von den tückischen Ranken, die ihn in den Unterland-Dschungel hatten zerren wollen. Die tieferen Narben, die seinen ganzen Körper und vor allem die Beine übersäten, hatte er den Kiefern der Riesenameisen zu verdanken, gegen die sie gekämpft hatten. Die Narben waren zwar nicht mehr ganz so tief, aber durch ihre silbrig-weiße Farbe fielen sie sofort auf. An T-Shirts oder kurze Hosen war deshalb nicht zu denken. In der kalten Jahreszeit, als man sich sowieso warm anziehen musste, war das egal gewesen, aber jetzt, im Juli, bei über 30 Grad im Schatten, sah das natürlich anders aus.
Er nahm ein Döschen aus Stein von der Fensterbank, schraubte den Deckel ab und verzog das Gesicht. Der fischigeGeruch der Salbe verbreitete sich sofort im ganzen Raum. Die Ärzte im Unterland hatten sie ihm verschrieben, damit die Wunden schneller verheilten, aber er hatte sie nicht besonders gewissenhaft benutzt. Eigentlich hatte er kaum einen Gedanken daran verschwendet, bis er eines Tages im Mai in Shorts ins Wohnzimmer gekommen war und die Nachbarin Mrs Cormaci gerufen hatte: »Gregor, du kannst unmöglich mit nackten Beinen rausgehen! Da fangen die Leute doch an, Fragen zu stellen!«
Sie hatte recht. Es gab ungefähr eine Trillion Sachen, die seine Familie sich nicht leisten konnte … und Fragen standen ganz oben auf der Liste.
Während Gregor sich das Zeug auf die Beine schmierte, dachte er sehnsüchtig an den Basketballplatz, die großen Wiesen im Central Park und das Freibad. Wenigstens konnte er ins Unterland gehen. Ein kleiner Trost.
Was für eine Ironie des Schicksals, dass das Unterland, das er immer so gefürchtet hatte, in diesem Sommer eine Zuflucht für ihn geworden war. Die stickige New Yorker Wohnung war viel zu klein für sie alle – Gregor, die ans Bett gefesselte Großmutter, den kranken Vater und Gregors jüngere Schwestern, die achtjährige Lizzie und die dreijährige Boots. Und doch hatte er immer das Gefühl, dass jemand fehlte … der leere Stuhl am Küchentisch … die unbenutzte Zahnbürste im Halter … Manchmal ertappte Gregor sich dabei, wie er ziellos von einem Zimmer ins andere ging, als würde er etwas suchen, und dann merkte er, dass er hoffte, seine Mutter zu finden.
In vielerlei Hinsicht hatte sie es im Unterland besser. Auch wenn sie sich meilenweit unter ihrer Wohnung befand und die Familie schrecklich vermisste. In Regalia, der Stadt der Unterlandmenschen, gab es Ärzte und reichlich gutes Essen, und die Temperatur war immer angenehm. Seine Mutter wurde dort unten behandelt wie eine Königin. Abgesehen davon, dass in Regalia jeden Moment ein Krieg ausbrechen konnte, war es gar kein so übler Ferienort.
Gregor ging ins Bad und wusch sich die Hände mit dem einzigen Mittel, das gegen die Fischsalbe ankam: Scheuerpulver. Dann ging er in die Küche, um Frühstück zu machen.
Dort erwartete ihn eine freudige Überraschung: Mrs Cormaci war schon da, sie verrührte gerade Eier und schenkte Saft ein. Auf dem Tisch stand eine große Packung Donuts mit Puderzucker. Boots saß auf ihrem Kinderstuhl, Puderzucker um den Mund, und mümmelte an einem Donut. Lizzie tat so, als würde sie ihr Rührei essen.
»Hey, gibt’s heute was zu feiern?«, fragte Gregor.
»Lizzie fährt ins Ferienlager!«, sagte Boots.
»Genau, kleines Fräulein«, sagte Mrs Cormaci. »Und wir sorgen dafür, dass sie vor der Abreise noch ein großes Frühstück bekommt.«
»Ein goßes Frühstück«, bekräftigte Boots. Sie fasste mit ihrer klebrigen Pfote in die Packung und hielt Lizzie einen Donut hin.
»Ich hab schon, Boots«, sagte Lizzie. Sie hatte ihren Donut noch nicht mal angerührt. Bestimmt konnte sie vor lauter Reisefieber nichts essen.
»Ich hab aber noch keinen«, sagte Gregor. Er griff Boots’ Handgelenk, führte den Donut zu seinem Mund und biss kräftig hinein. Boots kicherte und bestand darauf, den ganzen Donut an ihn zu verfüttern, wobei sie sein Gesicht mit Puderzucker beschmierte.
Da kam Gregors Vater mit einem leeren Tablett herein.
»Wie geht’s Großmutter?«, fragte Gregor und schaute seinem Vater auf die Hände. Wenn sie zitterten, stand ein schlechter Tag bevor. Aber heute schienen sie ruhig zu sein.
»Ach, ganz gut. Du kennst sie ja, einen anständigen Donut weiß sie immer zu schätzen«,
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