Nibelungengold 04 - Die Hexenkönigin
Sie sind aus ihren Stallungen ausgebrochen, als niemand mehr kam, um sie zu füttern. Mittlerweile gibt es in dieser Gegend mehr freilaufende Pferde als Menschen.«
»Die Leute aus dem Dorf schienen mir recht lebendig zu sein.«
»Die wenigen, die übrig waren. Aber ich habe das Dorf gesehen. Die vielen Totenfeuer, die schwarzen Fetzen an den Türen. Die zwanzig oder dreißig am Ufer waren nur der armselige Rest.«
»Glaubst du, sie waren schon krank?«
»Einige gewiß.«
»Und wir?«
Er zuckte mit den Achseln. »Warten wir’s ab.«
»Du nimmst den Tod nicht allzu schwer.«
»Noch leben wir, oder? Außerdem fürchte ich den Tod nicht. Die Pest, ja, sicher. Die Krankheit, das Siechtum. Aber nicht das Ende.«
Kriemhild warf noch einen betrübten Blick zum anderen Ufer, aber Lavendel war nirgends zu sehen. Dann trat sie Seite an Seite mit dem buckligen Jungen in den Wald, auf der Suche nach einem Pfad Richtung Osten.
»Warum?« fragte sie nach einer Weile.
»Warum was?«
»Weshalb hast du keine Angst vor dem Tod?«
Da verdüsterte sich sein Blick, und als er sprach, da klang es, als habe sie eine böse Erinnerung in ihm geweckt. »Ich kenne ihn viel zu gut, um ihn noch zu fürchten.«
»Niemand kennt den Tod. Keiner weiß, was einen erwartet, auch du nicht.«
»Ich schon. Ich war da.«
»Du mußt ein fürchterlicher Sänger sein, wenn deine Lügen alle so schlecht sind wie diese.«
Abrupt blieb er stehen. Sein Gesicht war bleich geworden. »Ich war einem Tod so nah wie kein anderer.«
»Einem Tod?« fragte sie verwundert. »Glaubst du denn, es gibt mehrere?«
»Es gibt einen leichten und einen schweren Tod, und wahrscheinlich noch einige dazwischen.«
Kriemhild grinste. »Dann ist dir gewiß der allerschwerste über den Weg gelaufen«, bemerkte sie scharfzüngig. Sie konnte ihn immer noch nicht ernst nehmen.
»Ja.«
»Das dachte ich mir.«
Kopfschüttelnd wollte sie weitergehen, doch er legte ihr eine eiskalte Hand auf die Schulter. Kriemhild schauderte und streifte die Finger eilig ab, wie die Beine einer besonders ekelhaften Spinne.
»Kein Tod«, sagte er leise, »ist so schrecklich wie der, den die Götter selbst einem wünschen.«
Kapitel 2
Jodokus war ein sonderbarer Kauz, daran gab es gar keinen Zweifel. Nach seinem merkwürdigen Gerede über den Tod sprach er eine ganze Weile überhaupt nicht mehr, doch als er schließlich erneut das Wort ergriff, da war er wieder ganz der Alte. Bissig spottete er über Kriemhilds vermeintlich hohe Herkunft, machte ihr aber auch ein paar nette Komplimente. Vor allem ihr Haar hatte es ihm angetan, wiederholt bewunderte er dessen Glanz und ungewöhnliche Länge.
Einmal fragte sie sich, ob er vielleicht nicht ganz richtig im Kopf sei, verwarf den Gedanken aber hastig. Die Vorstellung, mit einem Verrückten durch die Lande zu ziehen, war mehr als nur unbehaglich.
Sie erreichten bald einen Waldweg, zweifach gekerbt von Wagenrädern. Zwar fanden sie keine wilden Pferde, wie Jodokus versprochen hatte, doch bevor die Nacht vollends hereingebrochen war, stießen sie auf einer Lichtung auf ein einsames Gehöft. Die Bewohner hatten das Anwesen mit einem Großteil ihrer Tie re verlassen, nur auf einer kleinen Koppel standen noch vier alte, magere Mähren. Kein Vergleich zu Lavendel, aber besser als nichts, und bald schon kamen Kriemhild und der verwachsene Sänger schneller auf ihrem Weg nach Osten voran.
Die Sättel, die sie im Stall gefunden hatten, waren unbequem und sperrig, und es dauerte nicht lange, da schmerzten beiden die Hinterteile. Während Jodokus ausgiebig die genaue Natur seines Gesäßschmerzes erörterte, zog Kriemhild es vor, ihr eigenes Leid damenhaft zu verschweigen. Es waren vor allem Kleinigkeiten wie diese, in denen der Unterschied ihrer Herkunft besonders deutlich zutage trat, und Kriemhild fragte sich, wie der Junge allen Ernstes annehmen konnte, es sei vorzuziehen, als Hungerleider statt in reichen Verhältnissen aufzuwachsen. Sie jedenfalls fand es wenig erstrebenswert, jedem dahergelaufenen Fremden ihre peinlichsten Beschwerden zu offenbaren.
Längst lag die Nacht kühl und sternenklar über dem Land, als sie beschlossen, sich endlich zur Ruhe zu legen. Sie hatten mittlerweile die alte Heerstraße nach Würzburg wieder aufgespürt und waren ihr schon geraume Zeit gefolgt. Jetzt aber schlugen sie sich nach rechts ins Unterholz und knoteten die klapprigen Pferde an Zweigen fest. Alsdann legten sie sich auf
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