Nibelungengold 04 - Die Hexenkönigin
Kapitel 1
Auf dem Höhepunkt der Geburtstagsfeier begab es sich, daß sich Graubart der Zauberer mitsamt seinem Feuerwerk in die Luft sprengte, und alle waren ganz hingerissen von diesem Schauspiel.
Die Zuschauer spendeten begeisterten Beifall. Noch ahnte keiner, daß dies keine von Graubarts beliebten Gaukeleien war. Doch auch später, als die schlimme Kunde vom unrühmlichen Heimgang des Zauberers die Runde gemacht hatte, wollte niemand so recht um ihn trauern. Sicher, da war der eine oder andere, der meinte, man würde ihn wohl bei künftigen Festlichkeiten vermissen. Die meisten aber waren immer noch viel zu beeindruckt von den bunten Feuerrädern, Glutwolken und Springflammen, mit denen der Zauberer den Geburtstag des Königs versüßt hatte, als daß sie ernsthaft die Folgen hätten abwägen können.
Eine dieser Folgen war, daß Kriemhild, des Königs schöne Schwester, sich aufmachte, ihre Unschuld zu verlieren.
Um der Vollständigkeit genüge zu tun: Graubarts Tod hatte mehr als nur eine Folge, und nicht wenige waren sonderbar, ja geradezu grotesk (tatsächlich entfachten sie abermals den Streit um des seligen Zauberers magische Macht).
Doch nichts von all dem, was das mißglückte Feuerwerk an jenem Tag heraufbeschwor, war so wundersam wie Kriemhilds Reise durch das Pestland, ihre unglückliche Begegnung mit den Göttern und das vermeintliche Opfer ihrer königlichen Jungfräulichkeit.
So geschah es also, daß sich Graubarts Asche mit dem Sand des Burghofs mischte, und selbst Jahre später behauptete noch mancher, in lauen Vollmondnächten merkwürdige Verwehungen im Sand entdeckt zu haben, sternförmige Anhäufungen, farbige Muster und sprühende Quellen, aus denen kein Wasser, sondern Staub hervorschoß, als wollte der Sand des Burghofs das letzte Feuerwerk des Toten nachahmen.
Die Geburtstagsfeier des Königs fand ihr Ende erst am späten Abend, nach dem großen Bankett im Thronsaal, und die Anwesenden taten ihr Bestes, sich vom Elend, das der Stadt von Osten entgegenrückte, abzulenken. Denn dies war der wichtigste der Gründe, die Gunther bewogen hatten, zur Feier seines Jubeltages ganz Worms zu laden, vom niedersten Bettler bis zum tapfersten Kämpen: Er wollte die Menschen vergessen machen, was östlich der Stadttore näherrückte – die Plage, die Pest, der Schwarze Tod.
Und während im Thronsaal der Adel seinen Vergnügungen nachging und auf dem Burghof die Bürger ihren eigenen frönten (wobei es zwischen beiden keine nennenswerten Unterschiede gab, abgesehen vom Münzwert des Gesöffs), saß Kriemhild, sechzehn Lenze jung, in ihrer Kammer und dachte nach. Dachte nach, wie sie noch heute Nacht aus der Königsburg entfliehen und den Weg nach Osten einschlagen könnte. Dachte nach, wie es sein würde, auf eigene Faust ein ganzes Volk zu retten.
Sie hatte sich früh vom Bankett zurückgezogen, unter dem Vorwand, die Festlichkeiten hätten sie ermüdet. Jetzt aber legte sie ihr langes Kleid ab, schlüpfte statt dessen in die ledernen Hosen, die sie bei langen Ausritten zu tragen pflegte, zog sich ein dunkles Hemd mit weiten Ärmeln über und packte ihre hohen Reitstiefel in ein Bündel aus Tuch. Anschließend legte sie erneut ihr Kleid an, in der Hoffnung, es würde das, was sie darunter trug, leidlich gut verhüllen. Einen Moment lang erwog sie, auch den goldenen Zierdolch, ihre einzige Waffe, einzustecken, entschied sich dann aber dagegen; es würde sich ein besseres Werkzeug zu ihrer Verteidigung finden.
Mit wehendem Kleid und dem Bündel unterm Arm, das ihre Stiefel verbarg, verließ sie ihre Gemächer. Den beiden Männern, die draußen Wache standen, sagte sie, sie habe es sich anders überlegt und wolle noch einmal hinab zu den Feiernden gehen.
Hinter der nächsten Ecke wurde sie schneller, eilte mit klappernden Schritten durch die menschenleeren Flure der Burg. Fackeln spendeten Licht in Schwefeltönen, gelb und ungesund. Durch die Mauern drang der Lärm vom Hof: die Musik der Spielleute, das Lallen der Betrunkenen, das Klirren leerer Krüge auf den langen Holztafeln. Allzu vergnügt klangen Lachen und Gesang in Kriemhilds Ohren, als wollten die Menschen die drohende Seuche allein durch ihren Frohsinn bezwingen.
Noch hatte es in Worms keine Opfer gegeben, noch trug niemand die tückischen Male der Plage.
Dennoch, die Nachrichten aus dem Osten, überbracht von Brieftauben, die gleich nach der Ankunft verbrannt wurden, machten deutlich, daß es kein Entrinnen gab. Die Pest
Weitere Kostenlose Bücher