Nibelungengold 04 - Die Hexenkönigin
asketisch. Hinter ihm bewegte sich das verschüchterte Knäuel der Flüchtlinge. Alle waren splitternackt, ganz gleich ob Mann oder Weib oder Kind. Einige der Jüngsten weinten, andere hielten sich trostsuchend an den Händen.
Immer, wenn ein Kadaver von dem Alten mit den nötigen Weihen bedacht war, löste sich einer der Flüchtlinge aus der Gruppe und kroch widerstrebend in das ausgehöhlte Tier. Auf diese Weise war die Gruppe bereits auf die Hälfte zusammengeschrumpft; die übrigen hockten in den tropfenden Leibern, schwangen langsam mit ihnen vor und zurück.
»Wer ist dieser Mann?« flüsterte Hagen dumpf.
»Noah, ein Priester aus dem Norden«, antwortete Jorin. »Er hat sich uns angeschlossen, als wir die Stadt verließen.«
»Das da war sein Einfall, nehme ich an.«
»Ja. Deshalb bin ich fortgelaufen. Nicht wegen der Rinder«, fügte der Junge schnell hinzu, »ich habe keine Scheu vor Blut, aber …« Er verstummte, doch Hagen nahm den Satz auf:
»Aber du hattest Angst vor dem, was das Ritual bedeuten könnte, nicht wahr?«
»Ja, Herr«, gab Jorin zu und wunderte sich über das Verständnis des großen, finsteren Mannes.
»Als ich ein Kind war …«, begann Hagen, brach aber schlagartig ab, ohne den Satz zu Ende zu bringen.
Jorin wartete eine Weile, doch was immer der Ritter hatte sagen wollen, er behielt es lieber für sich. Schließlich zuckte der Junge nur mit den Schultern und blickte wieder hinaus auf die Lichtung. Er suchte nach seinen Eltern, fand sie aber nicht unter jenen, die hinter dem Priester standen. Sie mußten sich schon in den Kadavern verkrochen haben.
Plötzlich drehte Hagen sich zu Jorin um. Er hatte eine Entscheidung getroffen. »Geh zu deinen Leuten, Junge. Was immer sie dort tun mögen, bei ihnen bist du sicherer, als allein im Wald.«
»Und Ihr, Herr?«
»Ich reite weiter. Ich will mich nicht in diese Dinge mischen.«
»Aber ich habe Angst.«
»Und du tust gut daran, Jorin Sorgebrecht. In Zeiten wie diesen ist es weise, sich zu fürchten.«
Jorin blickte traurig zu Boden. »Sie werden mich bestrafen, weil ich fortgelaufen bin.«
»Liebst du denn deine Eltern nicht?«
»O doch, gewiß. Aber sie tun, was Noah ihnen sagt. Alle tun das. Und Noah wird mich bestrafen lassen.«
Hagen blickte wieder hinaus auf die Lichtung. »Er versucht, die Pest auszutreiben, nicht wahr?«
Jorin streichelte geistesabwesend über die Mähne des Schimmels. »Er sagt, die Krankheit ist in uns allen, zu jeder Zeit. Nur manchmal, wenn die Sünde der Welt besonders groß ist, dann kommt sie zum Vorschein, und verrät, wie es in unserem Inneren aussieht.«
»Aber dieses Ritual dort ist keine christliche Zeremonie.«
»Noah sagt, es reinigt die Menschen. Er betet oft und singt fromme Lieder.«
»Hat niemand etwas einzuwenden gehabt, als der Priester verlangte, die Tiere zu töten?«
»Jakup, dem die meisten Rinder gehörten, hat geschimpft und geschrien.« Jorin schüttelte sich bei der Erinnerung an das, was geschehen war. »Noah sagte, Jakup sei bereits krank, seine Worte würden das beweisen. Da wurde er ausgestoßen und mußte das Lager verlassen. In der letzten Nacht ist er zurückgekommen, um seine Rinder zu retten, aber es war schon zu spät. Die meisten waren längst geschlachtet. Jakup hat sich auf Noah gestürzt, ich glaube, er wollte ihn umbringen. Aber die anderen Männer haben ihn fortgerissen, und Noah hat befohlen, ihn …« Er verstummte.
»Was für ein sonderbarer Priester ist das, der aufrechte Männer töten läßt?«
»Er sagt, er sei der Erlöser.« Jorins Blick wurde trotzig. »Aber ich glaube ihm kein Wort.«
Hagen versank in Schweigen. Jorin spürte, daß er zwischen zwei Entscheidungen hin- und hergerissen wurde.
Schließlich sagte der Ritter: »Dennoch, ich muß weiter.« Er legte Jorin eine schwere Hand auf die Schulter. »Es tut mir leid. Du bist ein gescheiter Junge, Jorin, und du wirst einmal ein kluger Mann werden. Geh zu deinen Eltern zurück und –«
Von der Lichtung erklang ein lauter Ruf. Hagen brach mitten im Satz ab und fluchte lautstark. Als Jorin seinem Blick folgte, bemerkte er, daß ihr Versteck keines mehr war. Zwei Mädchen, ein wenig älter als Jorin selbst und unbekleidet wie der Rest der Flüchtlinge, zeigten mit ausgestreckten Armen auf die beiden Reiter im Unterholz. Sogleich brach ein Tumult aus.
Der Gesang des Priesters verklang. Noah wirbelte herum und deutete mit seinem Stab auf Hagen und Jorin. Die Menge schien sich hinter seinem
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