Nicht ohne Beruf (German Edition)
wegen eines Heimplatzes ärgerlich. Auch sie weiß, dass dort das zuständige Pfleg epersonal kaum 15 Minuten pro Patienten für direkten Kontakt, geschweige denn für längere Gespräche mit Verständigungsschwierigkeiten hat.
Aber wenigstens solle ich einen Arzt rufen.
Beim ersten Mal kommt Dr. K., der Mutti seit etwa zwei Jahrzehnten betreut. Außer Puls fühlen und Blutdruck messen, kann er nicht viel verrichten. Nein, in ein Krankenhaus könne er sie nicht einweisen.
„Das ist kein Fall fürs Krankenhaus.“
Mutti will wissen, ob es hilfreich zum Sterben sei, den Herzschrittmacher stillzulegen.
Der Arzt erklärt, dass das gar nichts bri nge. Das Herz pumpt trotzdem, nur eben etwas unregelmäßig. Bis sie stirbt, das könne schon noch dauern. So nach und nach würde wohl ein Organ nach dem anderen ausfallen. Geduld, Geduld!
Mir bleibt die Spucke weg bei solch ma ngelndem Feingefühl!
Dann beglaubigt und unterschreibt er ihre Patientenverf ügung.
Als es Mutti nach etwa zwei Wochen wieder einmal nach dem Besuch eines Mediziners gelüstet, kommt über den notärztlichen Bereitschaftsdienst ein junger Internist. Er setzt sich zu Mutti auf die Sofakante und streichelt ihr die mageren Hände.
„Geben Sie mir doch eine Spritze“, bettelt Mutti ihn an.
Ganz lieb sagt er: „Selbst wenn ich wollte und könnte, ich habe gar nichts dabei.“
Wir reden über Hospiz-Einrichtungen, die in den letzten Lebenstagen das Sterben e rleichtern sollen. Aber die würden Mutti wohl nicht nehmen.
Und dann zu mir: „Reden Sie ihr das mit dem Pflegeheim bloß aus!“
Zu Mutti: „Sie haben es daheim doch so gemütlich! Ich würde am liebsten hier bleiben.“
Sein Blick streift den Adventskranz und den erzgebirgischen Schwippbogen mit den Kerzen.
Die Lähmungen im Mund- und Rache nraum bewirken, dass Mutti nicht mehr singen kann. Sie kann auch die Lippen nicht mehr zum Küssen spitzen. Wenn sie es doch versucht, müssen wir lachen.
Doch dass allmählich ihre lallende Sprache für keinen mehr verständlich ist, erschü ttert sie am meisten, die stets ein kontaktfreudiger und sozialer Mensch war. Kann sie schon zu keinem mehr gehen, dann wäre doch Telefonieren ein gutes Mittel, um Bekanntschaften aufrecht zu erhalten. Die wenigen Besucher, die noch zu ihr in die Wohnung kommen, kriegen alles aufgeschrieben. So kann ich abends die Konversationen des Tages nachvollziehen.
„Ich kann nun auch nicht mehr lächeln!“, ist ihre neueste traurige Mitteilung.
Allmählich steckt sie mich an mit ihrem Drasch, ihr Sterbchen möglichst bald über die Bühne ziehen zu wollen. Ich lasse ihr Schlaftabletten verschreiben und lege sie ihr auf den Nachttisch. Wegen der Lähmung im Mund- und Rachenraum ist selbst das Schlucken einer einzigen Tablette schwere Arbeit. Die bekommt auch ihrem Magen nicht sehr gut.
„Genieß doch deine Tage einfach!“
Sie schaut mich groß an.
„Du bist noch nie so verwöhnt worden wie jetzt: Jeden Tag wirst du liebevoll gew aschen, kriegst den Rücken und die Beine und die Füße massiert. Das Essen wird dir ans Sofa gebracht. Du hast deine schöne Wohnung, dein Fernseher funktioniert auch wieder. Musst dich um nichts kümmern, kein Essen, keine Wäsche, keine Einkäufe. Bis auf gelegentliches Stechen von der Gürtelrose tut dir auch nichts besonders weh. Du hast keinen Krebs, keine Knochenbrüche, keine Infektion und kannst noch Karten spielen. Gewinnst gar wie ein Profi mit gezinkten Karten.“
Bis weit in den November hinein kommen am Wochenende noch Lenis Canasta-Damen. Dann muss ich ihnen endgültig absagen.
Anfang Dezember ergibt sich, für die Pflegeversicherung zusammengestellt, folgender Zustandsbericht, zum Teil den Arztberichten entnommen.
Grad der anerkannten Schwerbeschädigung: 100 %.
Fortschreitende motorische Ausfälle info lge amyotrophischer Lateralsklerose, ALS.
Bulbärsprache . Patientin ist kaum noch zu verstehen bei gut erhaltenen geistigen Fähigkeiten. Eine Verständigungist noc h schriftlich möglich. Allerdings sind auch die Fingerspitzen bereits gelähmt.
Rezeptbestellungen oder auch ein Anruf beim notärztlichen Dienst können nicht mehr allein ausgeführt werden, da auch die Adresse nicht mitgeteilt werden kann.
Schluck-, Kau- und mitunter auch Atembeschwerden (besonders im Liegen) infolge fortgeschrittener Lähmung im Mund- und Rachenraum. Daher wird vorwiegend flüssige Nahrung aufgenommen und Babynahrung für 4 Monate alte Kinder.
Durch
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