Der Tag ist hell, ich schreibe dir
Noch lange Zeit nach deinem Tod glaubte ich, dich zu sehen. Auf Flughäfen vor allem; Flughäfen schienen mir wie deine natürliche Umgebung; es war die Umgebung, zu der ich Zugang hatte, die ich – wenn auch selten – mit dir teilen konnte. Anders als die Hochhäuser der Banken, Tagungsräume von Aufsichtsratssitzungen oder Aktionärsversammlungen, die Hallen teurer Hotels und Sitzungszimmer hoher Politiker. Manchmal schien es mir, als sähe ich deine schmale Silhouette, deinen trotz des leichten Hinkens energischen, beschwingten Gang. Manchmal glaubte ich, einen Zug deines Gesichts zu sehen, un trait, im Deutschen eher im Plural verwendet, seine Züge verwandelten sich, ihre Gesichtszüge erinnerten ihn an, von sehr weit weg, wenn es sich auf das Gesicht eines Fremden zu legen schien, oder eine Geste, so charakteristisch für eine einzelne Person, dass man diesen Menschen sofort erkennt. Ich erschrak jedes Mal, als hätte ich dich tot geglaubt und du wärst es gar nicht.
Ich bereue bis heute, kein Foto von dir gemacht zu haben, in meinem Zimmer oder meinem Hinterhof, oder sogar eines von uns beiden, einen Schnappschuss, wie ich ihn manchmal mit einem Freund oder einer Freundin mache, indem wir einfach die Köpfe aneinanderhalten und die Kamera in einer ausgestreckten Hand auf uns richten. Ich bereue, wenn ich daran denke, nicht sofort zum Unfallort gefahren zu sein, um mich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass du es warst, oder sogar mit meinen Händen, dass dieser verkohlte Körper, der seltsam zusammengerollt, zusammengeknickt, zusammengesackt auf der Hinterbank lag, dort, wo ich einige Male neben dir gesessen hatte, auf dem Weg zum Flughafen, München-Riem oder Berlin-Tegel, von wo aus du dann die Stadt oder das Land verlassen hast, während ich wieder heimkehrte in meine Studentenwohnung; dein Leben, mein Leben.
Ich kann den Tod nur glauben, wenn ich ihn sehe oder berühre. Das Ganz-nah-Herantreten und Sehen. Die Aura, den Geruch aufnehmen, wie ich es bei meinem Großvater und meinem Vater getan habe. Vor allem aber: das Erkennen der Person.
Jahrelang hatte ich Albträume, in denen du mir begegnetest. In denen du auftauchtest und mich ansahst, fragend, traurig, fordernd. Jedes Mal erwachte ich, schweißgebadet, verwirrt, mit demselben Aufbegehren: Er ist nicht tot! Ich muss ihn finden! Der Tod war nur vorgetäuscht, um dem Tod zu entgehen! Um irgendwo auf dieser Welt weiterzuleben, eine unscheinbare, friedliche Existenz, die nach einfachen Dingen schmeckte, frischem Fisch, einer leichten Brise vom Meer her, dem Anblick seltener Blüten.
Erst fünfzehn Jahre nach deinem gewaltsamen Tod zeigte sich dieses Wieder-Auftauchen, diese unerwartete Vergegenwärtigung, wie ein Geschenk, ein » Ich-werde-dir-zurückgegeben«, » Ich-bin-bei-dir«, auch wenn es sich bald darauf erneut zersplittern sollte.
Natürlich habe ich nicht fünfzehn Jahre lang von dir geträumt; es beruhigte sich nach zwei, drei Jahren, es wurde allmählich seltener, klang aus. Neue Ereignisse und Erlebnisse legten sich nach dem Attentat, das mein Leben in ein Vorher und Nachher teilen sollte, ohne dass es mir damals klar gewesen wäre, allmählich über den Schmerz, die Trauer, die Ratlosigkeit und die Sehnsucht, und sie gewannen immer mehr Raum in mir, wie das Leben überhaupt. Die Theaterarbeit, die Begegnung mit meinem Mann, unser erstes Kind.
Abschied ist ein fragmentierter Nachklang, ich wusste nicht, dass er wiederkehren kann. Zeitsprünge, über dreißig Lebensjahre verteilt, von denen ich dich acht gekannt habe. Zerstörte Gedächtnisflächen wuchern neben komischen Begebenheiten. Der Ansturm der Presse, nachdem unsere Geschichte bekannt geworden war. Die Dollarzeichen in den Augen des Filmproduzenten, der sich über den Tisch beugte und sagte: » Ich mache Sie reich, wenn Sie mir Ihre Geschichte verkaufen«, worüber ich lachen musste und meinen Espresso umkippte. Der Schmerz in meiner Schulter, als ich anfing, mich in deine Vergangenheit zu graben und die möglichen Gründe für deinen Tod umkreiste. Der Anruf eines schwer atmenden Journalisten, der mir von einer Verschwörung ins Ohr raunte, sodass ich weiche Knie bekam. Der Besuch bei deinen Verwandten in Essen, bei dem ich mit Fremden glücklich war, im Garten, neben einer Voliere mit hundert kreischenden Kanarienvögeln.
Ich bin erst später, durch andere Todesfälle in der Familie, darauf gekommen, was es heißt, jemandem etwas zu hinterlassen. Die Dinge liegen mir
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