Nicht ohne Beruf (German Edition)
angewiesen zu sein.
Nun ist sie verwundert, wie sehr sie sich doch getäuscht hat. Wohl gar ein bisschen enttäuscht.
„Dass das mit dem Sterben mal so lang dauert, das habe ich nicht erwartet. Eine meiner Canasta-Damen hat das besser gemacht. Die hatte eine Pille und hat den Zeitpunkt ihres Todes selbst bestimmt.“
Ich weiß ja nicht, wie ich in Muttis Situat ion denken würde. Aber es könnte viel schlimmer sein: Sie hat keinen Krebs, ihr Kopf ist noch prima, und die Schmerzen von der Gürtelrose im Oberschenkel und andere Beschwerden sind zwar unangenehm aber halten sich doch in Grenzen.
„Ich finde es eigentlich spannend, zu sehen, wie ein Leben ganz allmählich zu Ende geht. Ich habe zwei Menschen auf die Welt kommen sehen, und nun kann ich erleben, wie einer aus der Welt geht. So schließt sich der Kreis. Das hat was Harmonisches.“
Natürliche Kreisläufe hatten schon immer etwas Faszinierendes für mich, ob es Wasser ist, Kohlenstoff oder Menschenleben.
Aber nachts ist mir nicht so harmonisch zu Mute. Wenn ich da aufwache, denke ich: Ist es jetzt so weit? Ich möchte dabei sein in den letzten Augenblicken. Aber ich kann ja nicht nachts um vier bei Mutti anrufen!
Mitte August habe ich dann auch einen kräftigen Durchhänger. Heulendes Elend. Dann ist es gut, einen aufrechten Stamm an der Seite zu haben.
Am Wochenende meint sie, das würde wohl das letzte Mal sein, dass sie am Sonntag mit ihrer Canasta-Runde spiele. Sie sei zu müde, um durchzuhalten.
Am Montag: „Na, hast du deinen Damen gesagt, dass du nicht mehr mitspielst?“
„Nein. Das ging ganz gut. Ich war so aufgeregt, dass ich ganz munter war.“
„Noch drei Wochen bis zu deinem 92. Geburtstag, Mutti. Wenn ich über den Friedhof gehe, finde ich es blöd, wenn da einer kurz vor seinem Geburtstag gestorben ist. Bis zum 8. solltest du noch durchhalten! Danach kannst du machen was du willst.“
„Zwei-und-neunzig! Das muss man sich vorstellen! Das hätte ich nie erwartet! Aber nun läuft die Uhr allmählich ab.“
Ab und zu bekomme ich auch zu hören: „Weißt du, Schatz, wenn du bei mir bist, blühen meine Lebensgeister wieder auf.“ Sie flackern allenfalls auf.
„Das Leben ist wirklich wie eine Kerze. Das Licht wird schwächer und schwächer, am Schluss, wenn das Wachs aufgebraucht ist, flackert es nur noch. Ist der Brennstoff zu Ende, ist auch das Licht erloschen.
Das, was so als Seele bezeichnet wird, ist das Licht eines Lebewesen. Die erlischt dann eben auch. Da muss man nicht in e inem Jenseits danach suchen. Sie ist Teil des Lebens. Die bleibt nicht übrig, ist nicht ‚unsterblich‘. Ich habe damit keine Schwierigkeiten. Wenn ich so sehe, wie alles bei dir weniger wird, ist das sehr einleuchtend.“
Falls Mutti sich gar nicht mehr in ihrer eigenen Wohnung bewegen kann, müsste ich sie zu uns holen. Als ich ihr das sage, ist sie ganz energisch dagegen. So weit sei sie noch lange nicht. Und gleich führt sie mir vor, wie sie allein aus dem Bett aufstehen kann. Sie würde auch keinen Galgen zum Hochziehen brauchen.
Ein ganz seltenes Ereignis tritt am 21. August noch ein: Mutti wird Ur-Ur-Großtante und erlebt die fünfte Generation: Die Ur-Ur-Enkel ihrer verstorbenen Schwester Dora sind in Potsdam zur Welt gekommen, und dann auch noch Zwillinge!
92 Jahre!
8. September2005: Zum Geburtstag ist Tanja von Berlin gekommen. Die Urenkel waren bereits im August da, Enkel Thomas in diesem Sommer gar zweimal. Zu viele auf einmal wäre doch sehr anstrengend für unsere Jubilarin.
Seit einigen Jahren gehört chinesisches E ssen für Mutti zum Geburtstag. So werden auch heute einige Menüs vom Chinesen in geholt.
Es wird ein vergnügtes kleines Fest.
Da Mutti immer schwerer zu verstehen ist, versteht mein Mann gleich gar nichts.
So meint er: „Schick doch deine Mutter mal zu einem Kurs für Bauchre dner. Vielleicht versteht man sie dann besser.“
Warum Tanja und ich so lachen, will Mutti wissen. Sie versteht natürlich auch ihn nicht; so etwas ist ja meist gegenseitig.
Ich sage es ihr, und sie kriegt sich vor L achen kaum wieder ein. Es ist so schön, dass sie sich ihren Humor bewahrt hat!
Vati hat ihr einen kleinen lieben Brief g eschrieben, sie würden sich ja am Telefon doch nicht mehr verstehen. Er schreibe mit Linienpapier! „Dein Erich“.
Wenige Tage später frage ich sie, ob wir es ihr verschweigen sollen, falls Vati vor ihr stirbt. Oder ob sie stark genug sei, eine
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