Nichts, was man fürchten müsste
Stendhal die erste Rossini-Biografie. Zwei Jahre darauf erschien Rom, Neapel und Florenz, worin er schilderte, wie Henri – oder Arrigo – Beyle 1811 nach Florenz kam. Er fuhr eines Januarmorgens von den Höhen des Apennin hinab, er sah »aus weiter Ferne« Brunelleschis große Kuppel über der Stadt aufragen, er stieg aus der Kutsche, um wie ein Pilger zu Fuß in die Stadt einzuziehen, er stand vor Gemälden, die ihn so erregten, dass ihm die Sinne schwanden. Und wir würden ihm noch heute jedes Wort dieses Berichts glauben, wenn er nur an eins gedacht hätte: das Tagebuch zu vernichten, das er ursprünglich auf dieser Reise führte.
Strawinski schrieb im Alter: »Ich frage mich, ob die Erinnerung trügt, und weiß, es kann nicht anders sein, und dennoch lebt man von der Erinnerung und nicht von der Wahrheit.« Stendhal lebte von der Erinnerung des Jahres 1826 , während Beyle die Wahrheit des Jahres 1811 aufgeschrieben hatte. Aus dem Tagebuch erfahren wir, dass er tatsächlich den Apennin in einer Kutsche überquerte und in die Stadt hinabfuhr, doch Erinnerung und Wahrheit nahmen verschiedene Wege. 1811 hätte er Brunelleschis Kuppel nicht aus weiter Ferne sehen können, und zwar aus dem einfachen Grund, dass es dunkel war. Er traf um fünf Uhr morgens in Florenz ein, »übermüdet, durchnässt, durchgeschüttelt«; er musste sich »an der Vorder seite des Postwagens festhalten und verkrampft im Sitzen schlafen«. Da überrascht es nicht, dass er geradewegs in ein Gasthaus ging, die Auberge d’Angleterre, und sich ins Bett legte. Zwei Stunden später wollte er geweckt werden, jedoch nicht zu touristischen Zwecken: Er begab sich zur Poststation, um dort einen Platz in der nächsten Kutsche nach Rom zu reservieren. Die Kutsche für den Tag war jedoch bereits ausgebucht und die für den nächsten Tag auch – das war der einzige Grund, warum er die drei Tage in Florenz blieb, in denen er in die Geschichte der ästhetischen Reaktionen einging. Ein weiterer Widerspruch: In dem Buch wird die Reise auf Januar datiert, im Tagebuch auf September.
Aber er ging in die Kirche Santa Croce, darin stimmen Erinnerung und Wahrheit überein. Doch was sah er dort? Na, die Giottos vermutlich. Auf die steuert doch jeder zu: die Giottos, die sich, wie uns der Firenze Spettacolo in Erinnerung ruft, in der Niccolini-Kapelle befinden. Doch in Wirklichkeit steht in keinem der beiden Berichte von Beyle/Stendhal etwas von Giotto oder auch nur einem anderen der bedeutenden Meisterwerke, zu denen uns die modernen Reiseführer hinlotsen wollen: das Kruzifix und die Verkündigung von Donatello, die Fresken von Taddeo Gaddi, die Pazzi-Kapelle. Ach, denken wir, der Geschmack ändert sich halt im Laufe der Jahrhunderte. Und die Niccolini-Kapelle erwähnt Beyle tatsächlich. Das Problem ist nur, dass die Giottos sich dort nicht befinden. Als er vor dem Altar stand, hätte er sich nach rechts gewandt – wenden sollen –, um zur Bardi-Kapelle und zur Peruzzi-Kapelle zu gelangen. Stattdessen ging er nach links in die Niccolini-Kapelle in der nordöstlichen Ecke des Querschiffs. Die vier Sibyllen-Bilder, die hier hängen und ihn in »Verzückung« versetzten, stammen von Volterrano. Ihre Frage ist berechtigt, ich habe sie mir auch gestellt. (Und Antworten gefunden: geboren 1611 in Volterra, gestorben 1690 in Florenz, Schüler von Pietro da Cortona, Günstling der Medici, Ausgestalter des Palazzo Pitti.)
In der Erinnerung von 1826 wurde die Kapelle von einem Mönch aufgeschlossen, und Stendhal setzte sich auf die Kniebank eines Betstuhls, den Kopf an ein Pult zurückgelehnt, um die mit Fresken bemalte Decke zu betrachten. In der Wahrheit von 1811 gibt es keinen Mönch und keinen Betstuhl; des Weiteren waren die Sibyllen 1811 und 182 6 wie auch zu jedem früheren und späteren Zeitpunkt hoch oben an den Wänden der Kapelle zu finden, aber nicht an der Decke. Ja, das Tagebuch von 1811 fährt nach dem Preisen der Volterranos fort: »Die Decke dieser Kapelle ist sehr eindrucksvoll, doch meine Augen sind zu schwach, um eine Decke recht zu beurteilen. Sie schien mir nur sehr eindrucksvoll zu sein.«
Heute ist die Niccolini-Kapelle nicht mehr abgeschlossen, doch ironischerweise liegt dieser berühmte Ort, wo die Kunst an die Stelle der Religion trat, in dem für die andächtigen Frommen abgetrennten Teil. Statt eines Mönchs braucht man nun einen uniformierten Wärter, statt eines Klappstuhls ein Fernglas. Ich erläuterte einem Mann im Anzug mein
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