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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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ich bin’s, Albert, wachst du für mich auf?« Und so immer weiter, eine Viertelstunde lang, nur einmal kurz von »Eben hast du doch was gesagt, ich weiß, dass du etwas gesagt hast – was hast du gesagt?« unterbrochen. Dann ging es wieder los mit »Hallo mein Liebling, ich bin’s, Albert, wachst du für mich auf?«, und zwischendurch weitere Küsse. Es war herzzerreißend (und ohrenbetäubend) und nur durch diesen Unterton von schwarzer Komödie zu ertragen. Meine Mutter und ich taten natürlich so, als wäre da nichts, oder zumindest nichts, was wir hören konnten; allerdings vermute ich, dass es sie nicht gleichgültig ließ, weil mein Vater gleichfalls Albert geheißen hatte.
    Die Fingernägel am unnützen Arm meiner Mutter wuchsen genauso weiter wie die Nägel an dem Arm, mit dem sie selbst den Daumen für sich gesenkt hatte; dann starb sie, und entgegen dem verbreiteten Glauben hörten alle zehn Nägel sofort auf zu wachsen. Wie die meines Vaters, die sich um und über das Fleisch seiner Fingerkuppen wölbten, zu wachsen aufgehört hatten. Mein Bruder hatte schon immer stärkere Nägel (und Zähne) als ich, ein Detail, das ich früher dem Umstand zuschrieb, dass er kleiner ist als ich und daher eine dichtere Kalziumkonzentration hat. Vielleicht ist das wissenschaftlich Unsinn (und die Erklärung liegt in den verschiedenen Marken von handelsüblicher Babymilch). Auf jeden Fall sind meine Fingernägel mit den Jahren dünner geworden, weil ich mir damit automatisch zwischen die Schneidezähne fahre, wenn ich lese, schreibe, mir Sorgen mache, gerade diesen Satz korrigiere. Vielleicht sollte ich damit aufhören, damit ich herausfinden kann, ob sich meine Nägel über die Fingerkuppen wölben, wenn mein Vater seine Rechte auf mich geltend macht.

    Der Pariser Friedhof Montmartre ist grün, wimmelt von Katzen und ist selbst an heißen Tagen kühl und luftig; er wirkt familiär, im Einklang mit der Umgebung und beruhigend. Im Gegensatz zu der riesigen Nekropole des Père-Lachaise vermittelt er – wie manche andere Friedhöfe auch – die Illusion, nur wer hier begraben liegt, sei je gestorben und habe einst ganz in der Nähe gewohnt, vielleicht in den Häusern, die gleich hinter dem Friedhof aufragen, und im Übrigen sei der Tod womöglich doch keine so schlimme Sache. Jules Renard fünf Monate vor seinem Tod: »Wenn man dem Tod richtig ins Gesicht schaut, wirkt er ganz freundlich.«
    Hier liegen einige meiner Toten, meist – da es Schriftsteller sind – im unteren und daher billigeren Teil. Rund dreißig Jahre nachdem Stendhal vor Santa Croce von heftigem Herzklopfen befallen wurde, seinen Lebensquell versiegt glaubte und in der Furcht weiterging, zu Boden zu stürzen, wurde er hier begraben. Wir möchten uns im Sterben treu bleiben und zudem so sterben, wie wir es erwartet hatten? Dieses Glück wurde Stendhal zuteil. Nach seinem ersten Schlaganfall schrieb er: »Ich finde nichts Lächerliches dabei, auf der Straße tot umzufallen, sofern es nicht mit Absicht geschieht.« Am 22 . März 1842 fand er nach einem Essen im Außenministerium das gewünschte nichtlächerliche Ende auf dem Bürgersteig der Rue Neuve-des-Capucines. Er wurde als »Arrigo Beyle aus Mailand« begraben, ein Rüffel für die Franzosen, die ihn nicht lasen, und ein Tribut an die Stadt, in der ihn der Geruch nach Pferdedung beinahe zu Tränen gerührt hatte. Und da ihn der Tod nicht unvorbereitet traf (er hatte einundzwanzig Testamente gemacht), hatte er auch seine eigene Grabinschrift verfasst: Scrisse. Amo. Visse. Er schrieb. Er liebte. Er lebte.
    Ein paar Schritte weiter liegen die Brüder Goncourt. »Zwei Namen, zwei Datumsangaben, das fanden sie genug. Hé! hé! « Bei mir löst ihr Grab aber etwas anderes aus. Zum einen ist es ein Familiengrab: zwei Kinder, die bei ihren Eltern begraben wurden. Sie sind in erster Linie Söhne und erst danach Schriftsteller; und vielleicht ist ein Familienbegräbnis ja so etwas wie eine Mahlzeit im Familienkreis – ein geselliges Ereignis, wie meine Mutter einst beharrlich meinte. Dabei gelten bestimmte Regeln, zum Beispiel die, dass man nicht angeben darf. Darum zeugen nur die beiden kupfernen Basrelief-Porträts oben auf der Grabplatte vom Ruhm der beiden Brüder, die sich im Tod einander zuwenden, so wie sie im Leben unzertrennlich waren.
    Seit 2004 haben die Goncourts einen neuen Nachbarn. Ein altes Grab, dessen Konzession abgelaufen war, wurde durch ein neues mit einem schwarz glänzenden

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