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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Kirche gegangen, dann hätten Müdigkeit und zu enge Stiefel ihn von Gottes Glorie abgelenkt; die Macht der Kunst aber siegte über schmerzende Zehen und wund geriebene Fersen.

    Mein Großvater Bert Scoltock hatte nur zwei Witze im Repertoire. Der erste bezog sich auf seine Hochzeit mit Grandma am 4 . August 1914 und wurde demgemäß ein halbes Jahrhundert lang wiederholt (aber nicht ausgefeilt): »Als wir geheiratet haben, ist der Krieg ausgebrochen« (bedeutungsvolle Pause) »und hat seitdem nie mehr aufgehört!!! « Der zweite Witz war eine lang und breit ausgewalzte Geschichte von einem Mann, der in ein Café ging und ein Würstchen im Schlafrock bestellte. Er aß einen Bissen und beschwerte sich, da sei ja kein Würstchen drin. »Das kommt noch«, sagte der Wirt. Der Mann aß noch einen Bissen und trug seine Beschwerde wieder vor. »Jetzt ist es schon vorbei«, war die Antwort – eine Pointe, die mein Großvater dann wiederholte.
    Mein Bruder stimmt mir zu, dass Großvater keinen Humor hatte; doch wenn ich weiter behaupte, er sei »langweilig und ein bisschen furchterregend« gewesen, meldet er Widerspruch an. Nun war er als erstgeborener Enkel auch Großvaters besonderer Liebling, und Grandpa hatte ihm beigebracht, wie man einen Meißel schärft. Zwar hat er mich nie verprügelt, denn ich habe seine Zwiebeln nicht herausgezogen, aber er trat in der Familie immer wie ein Oberlehrer auf, und seine Missbilligung ist mir noch gut in Erinnerung. Ein Beispiel: Er und Grandma kamen jedes Jahr über Ostern zu Besuch. Anfang der sechziger Jahre suchte Grandpa einmal etwas zu lesen, ging an das Bücherregal in meinem Zimmer und nahm, ohne zu fragen, meine Ausgabe von Lolita heraus. Ich sehe das Corgi-Taschenbuch noch vor mir, sehe auch, wie die an Holz- und Gartenarbeiten gewöhnten Hände meines Großvaters beim Lesen systematisch den Buchrücken knicken. Alex Brilliant hatte dieselbe Angewohnheit – aber bei Alex wirkte das so, als sei das Buchrückenknicken ein Zeichen der intellektuellen Beschäftigung mit dem Inhalt des Buches, während dieses (ansonsten identische) Verhalten bei Grandpa auf mangelnden Respekt vor dem Roman wie seinem Autor hinzudeuten schien. Von einer Seite zur anderen – von »Feuer meiner Lenden« bis zu »in einem Alter, in dem Knaben/ handfertig Hochbauspiele treiben« – wartete ich darauf, dass er das Buch angewidert fortwerfen würde. Zu meinem Erstaunen tat er das nicht. Er hatte damit angefangen, also würde er es auch zu Ende bringen: Englischer Puritanismus brachte ihn dazu, sich verbissen durch diese russische Geschichte vom lasterhaften Amerika zu ackern. Während ich ihn nervös beobachtete, kam es mir fast so vor, als hätte ich den Roman selbst geschrieben und wäre jetzt als heimlicher Nymphchen-Grabscher entlarvt. Was er wohl davon hielt? Schließlich gab er mir das Buch, dessen Rücken jetzt von einem vertikalen weißlichen Narbengewebe durchzogen war, mit der Bemerkung zurück: »Das mag ja gute Lite ratur sein, aber für mich war das SCHMUTZ .«
    Damals grinste ich in mich hinein, wie es sich für einen in Oxford immatrikulierten Ästheten gehört. Doch damit tat ich meinem Großvater unrecht. Denn er hatte richtig erkannt, was mich damals an Lolita reizte: die kraft volle Kombination von Literatur und Schmutz. (Der Mangel an sexuellen Kenntnissen – von Erfahrungen ganz zu schweigen – war derart, dass man Renard hätte umformulieren können: »Wenn es um Sex geht, kehren wir unser Buchwissen ganz besonders heraus.«) Außerdem habe ich Grandpa unrecht getan, als ich vorher behauptete, er habe mir in seinem Testament nichts vermacht. Wieder so ein Irrtum. Mein Bruder korrigiert mich: »Als Grandpa starb, hinterließ er mir seinen Schreibtisch im Chippendale-Stil (den ich nie leiden konnte) und dir seine goldene Sprungdeckeluhr (nach der es mich immer gelüstet hatte).«
    Ein alter Zeitungsausschnitt in meiner Archivschublade bestätigt, dass der Schreibtisch ein Geschenk zur Pensionierung war. 1949 nahm der damals sechzigjährige Bert Scoltock nach sechsunddreißig Jahren als Rektor in verschiedenen Gegenden von Shropshire seinen Abschied von der Madeley Modern Secondary School. Er bekam auch einen Sessel – aller Wahrscheinlichkeit nach eben jenen Parker Knoll – sowie einen Füllfederhalter, ein Feuerzeug und ein Paar goldene Manschettenknöpfe. Mädchen aus der hauswirtschaftlichen Abteilung hatten ihm einen zweistöckigen Kuchen gebacken, und Eric Frost

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