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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Marmorgrabstein ersetzt, auf dem eine Porträtbüste thront. Der Neuzugang ist Margaret Kelly-Leibovic, besser bekannt unter dem Namen Miss Bluebell – die Engländerin, die Generationen von sportlichen, mit Federn geschmückten, einen Meter achtzig großen Damen darauf trimmte, vor geilen Monokelträgern herumzuhüpfen und die Beine in die Luft zu werfen. Und für den Fall, dass jemand an ihrer Bedeutung zweifelt, wurden ihre vier Orden – darunter der Orden der Ehrenlegion – in Originalgröße, wenn auch dilettantisch, auf den schwarzen Marmor gemalt. Die anspruchsvollen, erzkonservativen, bohemefeindlichen Ästheten neben der parvenühaften Revuegirltrainerin aus dem Lido (der ihr Name nicht »genug« war)? Da sinkt das Niveau der Gegend aber rapide: Hé! hé! Mag sein; wir sollten aber nicht allzu leicht zulassen, dass der Tod zum Ironiker wird und Renard zu Recht gackernd lacht. Die Goncourts sprechen in ihrem Tagebuch mit einer Offenheit über Sex, die selbst heute noch schockieren kann. Was wäre also passender als ein – wenn auch um hundert Jahre verzögertes – postumes à trois mit Miss Bluebell?
    Als Edmond de Goncourt hier begraben wurde und die Familie damit ausgestorben war, hielt Zola die Totenrede. Sechs Jahre darauf war er in eigener Sache wieder da und wurde in ein Grab gelegt, das ebenso protzig war wie das der Goncourts schlicht. Der arme Junge aus Aix, der den Namen seiner aus Italien eingewanderten Familie in ganz Europa berühmt gemacht hatte, wurde unter prunkvollen Jugendstilornamenten aus rötlichbraunem Marmor bestattet. Die Büste des Schriftstellers im oberen Teil blickt so grimmig drein, als wollte sie nicht nur seinen Sarg und sein Werk, sondern gleich den ganzen Friedhof verteidigen. Doch Zolas großer Ruhm ließ ihn postum keinen Frieden finden. Schon sechs Jahre später entführte der französische Staat seinen Leichnam ins Panthéon. Und nun müssen wir dem Tod doch ein wenig Ironie zubilligen. Denken Sie an Alexandrine, die jene Nacht mit dem Rauch aus dem verstopften Kamin überlebt hatte. Ihre Witwenschaft sollte dreiundzwanzig Jahre dauern. Sechs Jahre davon konnte sie ihren Mann auf dem angenehm grünen Montmartre besuchen; dann musste sie siebzehn Jahre lang den mühsamen Weg in das kühle, widerhallende Panthéon machen. Dann starb Alexandrine selbst. Ein Pantheon ist aber nur für Berühmtheiten und nicht für ihre Witwen da, darum wurde sie – wie sie wahrscheinlich wusste – in dem nunmehr leer stehenden Grab beerdigt. Später kamen auch Madame Alexandrines Kinder dorthin, dann ihre Enkelkinder, alle in eine Gruft gepackt, in der das Familienoberhaupt und damit auch der Grund für die ganze Pracht fehlte.
    Wir leben, wir sterben, wir bleiben in Erinnerung – »ich will richtig falsch in Erinnerung bleiben«, sollten wir uns wünschen –, wir werden vergessen. Ein Schriftsteller gerät nicht klar und eindeutig in Vergessenheit. »Ist es besser, wenn ein Schriftsteller stirbt, bevor er vergessen wird, oder wenn er vergessen wird, bevor er stirbt?« Doch hier ist »vergessen« nur ein relativer Begriff, der bedeuten kann: aus der Mode gekommen, verbraucht, durchschaut, verdrängt, für spätere Zeiten zu seicht – oder aber als zu schwer, zu ernsthaft  – erkannt. Viel interessanter aber ist das wahre Vergessenwerden. Zuerst bist du vergriffen und wirst den Nischen des modernen Antiquariats oder der Ramscher-Website überlassen. Wenn du Glück hast, folgt eine kurze Wiederbelebung mit ein, zwei nachgedruckten Titeln; dann ein weiterer Niedergang und eine Zeit, in der ein paar Examenskandidaten auf der Suche nach einem Prüfungsthema müde in deinen Werken blättern und sich fragen, warum du so viel geschrieben hast. Am Ende vergessen dich die Verlage, das wissenschaftliche Interesse schwindet, die Gesellschaft wandelt sich und die Menschheit entwickelt sich ein wenig weiter, während die Evolution ihren planlosen Plan verfolgt, uns alle zu einem Pendant von Bakterien und Amöben zu machen. Das ist unvermeidlich. Und irgendwann hat ein Schriftsteller – logischerweise – dann seinen letzten Leser. Ich bitte jetzt nicht um Mitgefühl; es ist etwas, was einfach zum Leben und Sterben eines Schriftstellers gehört. Irgendwann zwischen heute und dem Tod des Planeten in sechs Milliarden Jahren hat jeder Schriftsteller seinen letzten Leser. Stendhal schrieb sein Leben lang für die »happy few«, die ihn verstanden; nun wird seine Leserschaft auf wenige,

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