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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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sondern zu den Lippen, dem Haar und der weißen Bluse von »Sept. 1915 « und der ausradierten Stelle neben dem Datum. Warum wurde dieses Foto verunstaltet und seine Ränder wie von wütenden Fingernägeln zerrissen? Weiter, warum wurde es nicht ganz aus dem Album entfernt oder zumindest mit einem anderen Bild überklebt? Hier einige mögliche Erklärungen: 1 . Es war ein Bild von Grandma, das Grandpa gefiel, das Grandma aber später nicht mehr sehen wollte. Das würde aber die offenkundige Gewalt der Attacke nicht erklären, die auf die Albumseite darunter durchschlug. Es sei denn, 1. b, die Attacke geschah nach Einsetzen der Senilität, und Grandma hatte sich einfach nicht mehr erkannt. Wer ist diese Frau, die sich da eingeschlichen hat, diese Verführerin? Und so hat sie sich selbst weggekratzt. Aber warum dann ausgerechnet dieses Bild? Und warum hat sie die Angaben neben dem Datum ausradiert? 2 . Falls das eine andere Frau war, hat dann Grandma das Bild zerkratzt? Und wenn ja, wann ungefähr? Kurz nachdem es in das Album eingeklebt wurde, ein theatralischer Akt in einem Ehekrach? Viel später, aber noch zu Grandpas Lebzeiten? Oder nach Grandpas Tod als ein lange aufgeschobener Racheakt? 3 . Könnte es, nur so als Möglichkeit, »ein sehr nettes Mädel namens Mabel« sein, nach dem meine Mutter benannt wurde? Wie sagte Grandma doch einst zu meiner Mutter – es gäbe keine schlechten Männer auf der Welt, wenn es keine schlechten Frauen gäbe. 4 . Grandpa könnte das Bild selbst zerkratzt und versucht haben, es zu zerreißen. Das wirkt höchst unwahrscheinlich, da es a) sein Album war, er b) als geübter Handwerker sich mit Lederarbeiten und Buchbinderei auskannte und bestimmt bessere Arbeit geleistet hätte und c) Foto-Verstümmelung ein, wie ich glaube, vorwiegend weibliches Verbrechen ist. 5 . Auf jeden Fall aber sind die Daten zu beachten. Bert (wie er sich 1914 nannte) und Nell hatten am Tag des Kriegsausbruchs geheiratet; im ersten Monat danach wurde ihre Tochter gezeugt und kam im Juni 1915 zur Welt. Das geheimnisvolle Foto trägt das Datum September 1915 . Im November 191 5 meldete sich mein Großvater freiwillig zur Armee, obwohl in ein paar Monaten sowieso die allgemeine Wehrpflicht eingeführt werden sollte. Ist das vielleicht der Grund, warum er das Gefühl der Reue kannte? Und meine Mutter war ein Einzelkind, natürlich.
    Ein Bertie, aus dem ein Bert wurde; ein später Kriegsfreiwilliger; ein stummer Zeuge; ein Sergeant, der als Private entlassen wurde; ein entstelltes Foto; ein möglicher Fall von Reue. Das ist unser Arbeitsgebiet, die Zwischenräume der Unwissenheit, das Land von Widerspruch und Schweigen, um das anscheinend Bekannte überzeugend darzustellen, die Widersprüche aufzulösen oder aber so hervorzuheben, wie es uns nützlich ist, und das Schweigen beredt zu machen.

    Mein Großvater stellt fest: »›Freitag. Schönes Wetter. Im Garten gearbeitet. Kartoffeln gepflanzt.‹« Meine Großmutter erwidert: »Unsinn«, und behauptet: »›Den ganzen Tag Regen. Zu nass, um im Garten zu arbeiten.‹« Er schüttelte den Kopf, wenn sein Daily Express ihm etwas von einer Verschwörung der Roten zur Eroberung der Weltherrschaft erzählte; sie seufzte auf, wenn ihr Daily Worker schrieb, amerikanische Imperialisten und Kriegstreiber drohten die Volksdemokratien zu unterminieren. Wir alle – ihr Enkel (ich), der Leser (Sie) und selbst mein letzter Leser (ja Sie, Sie mieser Hund) – sind der Überzeugung, die Wahrheit liege irgendwo in der Mitte. Den Schriftsteller (das bin wieder ich) interessiert aber nicht so sehr, wie diese Wahrheit nun genau aussieht; ihn interessiert eher das Wesen derer, die daran glauben, die Art, wie sie daran glauben, und die Beschaffenheit des Untergrunds zwischen den konkurrierenden Erzählungen.
    Fiktionale Literatur entsteht durch einen Prozess, der absolute Freiheit mit strengster Kontrolle verbindet, der die Balance hält zwischen genauer Beobachtung und dem freien Spiel der Fantasie, der mit Lügen die Wahrheit sagt und mit der Wahrheit lügt. Er ist zentripetal und zentrifugal zugleich. Er will alle Geschichten in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit, Gegensätzlichkeit und Unvereinbarkeit erzählen; aber er will auch die eine wahre Geschichte erzählen, in der alle anderen Geschichten miteinander verschmelzen, sich läutern und auflösen. Der Romanschriftsteller ist ein verfluchter Zyniker von der letzten Bank und gleichzeitig ein lyrischer Poet, der Wittgensteins

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