Nichts, was man fürchten müsste
asketische Forderung – nur über das zu sprechen, was man wirklich weiß – wie auch Stendhals unbekümmerte Schamlosigkeit für sich in Anspruch nimmt.
Ein Junge wirft sich auf einen undichten Puff, und durch die kaputten Nähte spritzen die zerrissenen Liebesbriefe seiner Eltern heraus. Doch das Wunder und Mysterium oder die Monotonie und Banalität ihrer Liebe wird er nie zusammensetzen können (»Die Leute sagen, es sei ein Klischee, für mich fühlt es sich aber nicht wie ein Klischee an.«). Ein halbes Jahrhundert später sieht der Junge, nun fast schon ein alter Mann, der sich sein ganzes erwachsenes Leben lang mit Geschichten, ihrer Bedeutung und ihrer Entstehung beschäftigt hat, darin eine Metapher für unser Leben: die energische Tat, die zerfetzten Hinweise, die Unwilligkeit oder Unfähigkeit, eine Geschichte zusammenzubauen, von der wir nur Bruchstücke kennen können. Was bleibt, sind blaue Papierschnipsel, Postkarten, deren Briefmarken – und damit auch Poststempel – über Dampf abgelöst wurden, und der Klang einer Schweizer Kuhglocke, die mit stumpfsinnigem ding-dong in einen Müllcontainer scheppert.
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich einmal der kleine Junge mit verbundenen Augen war, der von seinem Bruder gegen eine Mauer geschubst wurde. Ohne psychotherapeutische Eingriffe einer Art, der ich skeptisch gegenüberstehe, kann ich auch nicht herausfinden, ob dieses Nichterinnern von absichtlicher Verdrängung (Trauma! Terror! Angst vor meinem Bruder! Liebe zu meinem Bruder! Beides!) oder der mangelnden Besonderheit des Ereignisses herrührt. Es wurde mir zuerst von meiner älteren Nichte C. geschildert, als sie und ich uns damit auseinandersetzten, dass es mit meiner Mutter endgültig zu Ende ging. C. sagte, sie und ihre Schwester hätten das als »eine lustige Geschichte« erzählt bekommen, als sie noch klein waren. Aber sie wusste auch noch, dass sie fand, das sei »kein besonders schönes Verhalten, also hatte er [ihr Vater, mein Bruder] dabei vielleicht irgendeinen moralischen Hintergedanken«. Wenn das stimmt – was könnte diese Moral sein? Man soll seine jüngeren Geschwister nicht so behandeln wie ich? Man soll lernen, dass das Leben so ist, als würde man mit verbundenen Augen gegen eine Mauer geschubst?
Ich bitte meinen Bruder um seine Version. »Diese Geschichte mit dem Dreirad«, antwortet er. »Ich habe sie oder Varianten davon C. & C. erzählt, um sie zum Lachen zu bringen – was mir, fürchte ich, auch gelungen ist. (Ich kann mich nicht erinnern, dass ich ihnen je irgendwas mit einer Moral erzählt hätte …)« Das hat man davon, wenn man einen Philosophen zum Vater hat. »Meiner Erinnerung nach haben wir dieses Spiel in Acton im Garten gespielt. Auf dem Rasen wurde eine Hindernisbahn aufgebaut – Holzklötze, Blechbüchsen, Ziegelsteine. Das Spiel ging so, dass man diese Hindernisbahn mit dem Dreirad möglichst unbeschadet überwinden musste. Einer von uns hat das Dreirad gelenkt und der andere geschoben. (Ich glaube, das Dreirad hatte keine Kette mehr; aber vielleicht hat das Schieben auch zum sadistischen Vergnügen an der Sache beigetragen.) Dem Lenkenden wurden die Augen verbunden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir uns beim Lenken und Schieben abgewechselt haben; aber vermutlich habe ich dich schneller geschoben als du mich. Ich kann mich an keinen größeren Unfall erinnern (nicht mal daran, dass jemand gegen eine Mauer geschoben wurde – was bei der Anlage des Gartens auch gar nicht einfach gewesen wäre). Ich erinnere mich nicht, dass du Angst hattest. Ich glaube eher, wir fanden das lustig und ziemlich unartig.«
Die ursprüngliche Zusammenfassung des Spiels durch meine Nichte – mein Bruder hätte mir die Augen verbunden und mich dann an eine Mauer geschoben – könnte die Kurzfassung einer Kindheitserinnerung sein, die das hervorhob, was meine Nichte selbst am meisten gefürchtet hätte; es könnte auch eine spätere Verkürzung oder Neuinterpretation unter dem Aspekt des Verhältnisses zu ihrem Vater sein. Erstaunlicher ist, dass meine eigene Erinnerung hier einen blinden Fleck hat, vor allem wenn man bedenkt, wie kompliziert das ganze Verfahren war. Ich frage mich, wie mein Bruder und ich in unserem winzig kleinen, gepflegten Vorstadtgarten Holzklötze, Büchsen und Ziegelsteine auftreiben oder gar so eine Hindernis-bahn aufbauen konnten, ohne dass es jemand gemerkt und entweder erlaubt oder verboten hätte. Doch meine Nichte bestreitet
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