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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Grandma: »Unsinn. ›Den ganzen Tag Regen. Zu nass, um im Garten zu arbeiten.‹«
    Außerdem erinnert sich mein Bruder, dass er einmal, als er noch ganz klein war, in Grandpas Garten ging und sämtliche Zwiebeln herauszog. Grandpa schlug ihn, bis mein Bruder heulte, wurde dann ungewöhnlich bleich, beichtete alles unserer Mutter und schwor, niemals wieder die Hand gegen ein Kind zu erheben. In Wirklichkeit kann sich mein Bruder an nichts dergleichen erinnern – weder an die Zwiebeln noch an die Schläge. Er hat die Geschichte nur mehrfach von unserer Mutter erzählt bekommen. Und würde er sich doch daran erinnern, wäre er wahrscheinlich skeptisch. Als Philosoph meint er, Erinnerungen seien oft falsch, »und das in einem Maße, dass man nach dem kartesianischen Prinzip des faulen Apfels keiner Erinnerung trauen darf, es sei denn, sie wird durch äußerliche Beweise gestützt«. Ich bin entweder gutgläubiger oder neige mehr zum Selbstbetrug, darum fahre ich fort, als wären meine Erinnerungen allesamt wahr.
    Unsere Mutter wurde Kathleen Mabel getauft. Sie hasste den Namen Mabel und beschwerte sich bei Grandpa darüber, der zur Erklärung angab, er habe einmal »ein sehr nettes Mädel namens Mabel« gekannt. Ob ihr religiöser Glaube stärker oder schwächer wurde, weiß ich nicht, obwohl ich ihr Gebetbuch besitze, das zusammen mit den Hymns Ancient and Modern in weiches braunes Wildleder gebunden ist. In jedem Band steht mit erstaunlich grüner Tinte ihr Name und das Datum »Dec: 25 th . 1932 .« Ihre Zeichensetzung finde ich bewundernswert: Zwei Punkte und ein Doppelpunkt, und der Punkt unter dem »th« sitzt exakt zwischen den beiden Buchstaben. So etwas gibt es heute nicht mehr.
    In meiner Kindheit waren die üblichen drei Themen tabu: Religion, Politik und Sex. Als meine Mutter und ich später über dergleichen sprachen – das heißt über die ersten beiden Themen, das dritte stand niemals auf der Tagesordnung –, war ihre politische Einstellung erzkonservativ und wahrscheinlich immer gewesen. Was die Religion anging, so erklärte mir meine Mutter mit Bestimmtheit, bei ihrer Beerdigung wolle sie »nichts von diesem Brimborium« haben. Darum antwortete ich dann auf die Frage des Bestattungsunternehmers, ob er die »religiösen Symbole« aus dem Krematorium entfernen solle, dass sie das vermutlich gewünscht hätte.
    Dieser Irrealis der Vergangenheit ist meinem Bruder übrigens höchst suspekt. Beim Warten auf den Beginn der Trauerfeier hatten wir nicht gerade einen Streit – das hätte gegen jede Familientradition verstoßen –, aber doch einen Wortwechsel, der deutlich machte, dass mein Denken nach meinen eigenen Maßstäben durchaus rational sein mag, nach seinen aber auf schwachen Füßen steht. Als unsere Mutter durch ihren ersten Schlaganfall behindert war, überließ sie ihr Auto bereitwillig ihrer Enkelin C. Der Wagen war der letzte einer langen Reihe von Renaults, einer Marke, der sie über vier Jahrzehnte hinweg frankophil die Treue gehalten hatte. Nun stand ich mit meinem Bruder auf dem Parkplatz des Krematoriums und hielt Ausschau nach der vertrauten französischen Silhouette, doch dann fuhr meine Nichte am Steuer des Wagens ihres Freundes R. vor. Ich bemerkte, gewiss ganz freundlich: »Ich glaube, Mutter hätte sich gewünscht, dass C. in ihrem Auto gekommen wäre.« Mein Bruder nahm ebenso freundlich Anstoß an der Logik dieses Satzes. Er erklärte, es gebe Wünsche von Verstorbenen, d. h. das, was sich ein Mensch, der nunmehr tot sei, einst gewünscht habe; und es gebe hypothetische Wünsche, d. h. das, was sich ein Mensch möglicherweise gewünscht hätte. »Was Mutter sich gewünscht hätte« sei eine Mischung von beidem: der hypothetische Wunsch einer Verstorbenen und daher doppelt fragwürdig. »Wir können nur tun, was wir selbst wünschen«, erläuterte er; sich im mütterlich Hypothetischen zu ergehen sei ebenso irrational, als wenn er sich nun mit seinen eigenen Wünschen aus der Vergangenheit befasste. Als Antwort trug ich vor, wir sollten uns bemühen, das zu tun, was sie sich gewünscht hätte, weil wir a) auf jeden Fall etwas tun müssten, und dieses Etwas bedeute (es sei denn, wir wollten ihre Leiche einfach im Garten verwesen lassen) eine Entscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten, und weil wir b) hofften, dass andere, wenn wir selbst einmal tot wären, das tun würden, was wir unsererseits uns gewünscht hätten.
    Ich sehe meinen Bruder nicht oft und bin daher

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