Das kleine Gespenst
Auf Burg Eulenstein hauste seit uralten Zeiten ein kleines Gespenst. Es war eines jener harmlosen kleinen Nachtgespenster, die niemandem etwas zuleide tun, außer man ärgert sie.
Tagsüber schlief es in einer schweren, eisenbeschlagenen Truhe aus Eichenholz, die stand auf dem Dachboden, wohl versteckt hinter einem der dicken Schornsteine und kein Mensch hatte eine Ahnung davon, dass sie eigentlich einem Gespenst gehörte,
Erst des Nachts, wenn im Städtchen Eulenberg, das zu Füßen der Burg lag, die Rathausuhr Mitter-
nacht schlug, erwachte das kleine Gespenst. Pünktlich beim zwölften Glockenschlag öffnete es die Augen und reckte und streckte sich. Dann kramte es unter den alten Briefen und Urkunden, die ihm als Kopfkissen dienten, den Schlüsselbund mit den dreizehn Schlüsseln hervor, den es ständig mit sich herumschleppte. Es schwenkte ihn gegen den Truhendeckel - und augenblicklich hob sich der Deckel von selber und klappte auf.
Nun konnte das kleine Gespenst aus der Truhe heraussteigen. Dabei stieß es jedes Mal mit dem Kopf gegen eine der vielen Spinnweben, denn dieser entlegene Teil des Dachbodens, den seit Jahren kein Mensch betreten hatte, war ganz und gar zugesponnen und schrecklich verstaubt. Auch die Spinnweben hingen voll Staub. Sobald man sie nur berührte, kam er in dichten Schauern herabgerieselt.
„Hatzi!"
Das kleine Gespenst musste jedes Mal niesen, wenn es der Truhe entstieg, an die Spinnweben stieß und den Staub in die Nase bekam. Es schüttelte sich ein paarmal, um richtig wach zu werden. Dann schwebte es hinter dem Schornstein hervor und trat seinen mitternächtlichen Rundgang an.
Wie alle Gespenster hatte es überhaupt kein Gewicht. Es war luftig und leicht wie ein Streiflein
Nebel. Nur gut, dass es niemals ohne den Schlüsselbund mit den dreizehn Schlüsseln die Runde machte! Der leiseste Windhauch hätte genügt, um es auf und davon zu wehen, wer weiß wohin.
Das war aber nicht der einzige Grund, weshalb das kleine Gespenst den Schlüsselbund ständig mit sich herumtrug. Es brauchte ihn nämlich bloß durch die Luft zu schwenken - da öffneten sich sofort alle Türen und Tore auf seinem Weg! Und zwar öffneten sie sich von selbst, einerlei, ob verriegelt oder verschlossen, ob zugeklinkt oder nur angelehnt. Genauso war es mit Truhendeckeln und Schranktüren, mit Kommoden und Reisekoffern, ja selbst mit Ofenklappen und Schubfächern, Dachluken, Kellerfenstern und Mausefallen. Ein Wink mit dem Schlüsselbund und sie öffneten sich; ein zweiter Wink und sie schlossen sich wieder.
Das kleine Gespenst war sehr froh darüber, dass es den Schlüsselbund mit den dreizehn Schlüsseln besaß. „Ohne ihn", dachte es manchmal, „wäre das Leben bedeutend schwieriger ..."
Bei schlechtem Wetter verbrachte das kleine Gespenst die Geisterstunde zumeist in den Räumen des Burgmuseums, zwischen den alten Bildern und Rüstungen, den Kanonen und Spießen, den Säbeln und Reiterpistolen. Es machte sich einen Spaß daraus die Ritterhelme mithilfe des Schlüsselbundes auf-und zuschnappen zu lassen; es rollte die steinernen Kanonenkugeln auf dem Fußboden hin und her, dass sie nur so rumpelten; und zuweilen, wenn es gerade Lust hatte, hielt es Zwiesprache mit den Damen und Herren auf den goldgerahmten Gemälden im Rittersaal.
„Guten Abend, mein Bester!", sagte es beispielsweise, wenn es dem Bildnis des Burggrafen Georg-Kasimir gegenübertrat, der vor ungefähr fünfhundertfünfzig Jahren gelebt hatte und ein ziemlich ungehobelter Mensch gewesen war. „Entsinnst du dich jener Nacht im Oktober damals, als du mit deinen Kumpanen gewettet hattest, du werdest mich fangen und eigenhändig zum Fenster hinauswerfen? Ich muss sagen, du hast mich mit deiner Wette ganz schön in Wut gebracht! Darum darfst du es mir nicht übel nehmen, dass ich dir tüchtig Angst gemacht habe. Aber musstest du deshalb gleich selbst aus dem Fenster springen, noch dazu, wo sich das Fenster im dritten Stock befand? Zum Glück bist du ja im schlammigen Burggraben glimpflich gelandet. Du wirst jedoch zugeben müssen, die Sache hätte auch schiefgehen können ..."
Oder es verneigte sich vor dem Bild der wunderschönen Pfalzgräfin Genoveva Elisabeth Barbara, der es vor einigen vierhundert Jahren geholfen hatte, ihre kostbaren goldenen Ohrringe wiederzufinden, die eine Elster ihr von der Fensterbank wegstibitzt hatte.
Oder es stellte sich vor den feisten Herrn mit dem roten Knebelbart und dem Spitzenkragen über der
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