Niedertracht. Alpenkrimi
der Leiche. Das neckische Dutzend in Weiß blieb brav auf den Stühlen sitzen. Einige rissen trotzig die Augen auf, um immer noch cool und gelangweilt zu wirken: So etwas sehe ich jeden Tag. Doch mumifizierte Leichen haben auf den ersten Blick etwas zutiefst Verstörendes und Nachdenkenswertes: Sie sind auf irgendeine geheimnisvolle Weise noch toter als tot und geben einem eine allzu deutliche Vorschau aufs eigene Zukünftige.
»Wir hätten doch lieber im März in die Stahlgießerei gehen sollen«, sagte Eileen laut zu ihrer Nachbarin Michelle.
»Mir gefällt das, ich werde Pathologin«, antwortete Michelle.
Der Tote auf dem Seziertisch hatte die Haltung nicht aufgegeben, die er in der Felsnische am Berg eingenommen hatte. Leicht gekrümmt, halb sitzend, halb liegend konnte man sich des Gedankens nicht ganz entziehen, dass er dort auf eine unangemessene Weise
lümmelte
.
»Wir von der gerichtsmedizinischen Abteilung helfen der Polizei, Verbrechen aufzuklären. Wir stellen fest, wie dieser Mann zu Tode gekommen ist.«
»Es steht also schon fest, dass es ein Mann ist?«, fragte die zukünftige Pathologin Michelle.
»So ist es. Das Opfer ist männlich, weiß, um die dreißig herum, Westeuropäer, er hat viel Sport getrieben, und er hat beim Bergsteigen vermutlich seine Kräfte überschätzt. Er war muskulös, hat gesund gelebt, bis auf vielleicht ein oder zwei Zigaretten am Tag. Er hat keinen oder kaum Alkohol getrunken, und, seht her, er hat hier ein Tattoo.«
Sie hielt den Arm des weiland Bergsteigers hoch, alle reckten sich, Jennerwein und Maria traten ganz nah an den Tisch.
»Es ist natürlich nicht mehr so gut erkennbar. Aber es war einmal ein Herz, darunter kann ich die Namen Hans & Evi lesen.«
»Hans & Evi«, murmelte Jennerwein. »Naja, besser als nichts.«
»Wie ist das mit den Maden?«, fragte Cosma. »Ich habe schon ein paar Filme gesehen, da kann man mit Maden und Insektenlarven den Mörder finden.«
»Das ist in diesem Fall nicht so ganz leicht. Der Tote hat ein paar Wochen auf zweieinhalbtausend Meter Höhe in der frischen Luft gelegen, da gibt es keine Maden. Da dörrt der Körper eher aus wie –«
»– Tiroler Luftgeselchtes?«
»Genau. Mit den Maden kann man hier nicht viel ausrichten. Ich habe etwas anderes genauer untersucht. Und damit kommen wir zum Mageninhalt«, sagte die Frau im Rollstuhl.
»Ja, zum Mageninhalt! Zum Mageninhalt!«, rief Michelle fröhlich.
»Vom Mageninhalt kann man auf das schließen, was der Tote zuletzt gegessen hat. Man kann es sogar ziemlich genau bestimmen. Reste von Speisen erhalten sich über Jahre hin.«
»Das ist ja eklig«, sagte Jeannie und ließ eine Kaugummiblase platzen.
»Eklig, aber ergiebig. Ich habe Muskelzellen in deformiertem Zustand gefunden. Sogenannte Sarkoplasmen, mit löchrigen Zellwänden.«
Die Frau im Rollstuhl machte ein verschmitztes Gesicht in Richtung der beiden Ermittler. Jennerwein und Maria blickten ahnungslos.
»Die Sarkoplasmen, wie ich sie gefunden habe, deuten auf tierisches Fleisch hin. Ich habe die Spezies genauer bestimmt. Es handelt sich um ein Exemplar des
bos primigenius taurus
, im Volksmund
Gemeines Hausrind
genannt. Die Sarkoplasmen stammen aus dem Bereich des
musculus psoas major
, das ist der Große Lendenmuskel. Im Volksmund nennt man das eine Lende oder ein Filet. Die Sarkoplasmen sind zerstört, das deutet auf eine kurzfristig große Hitzeeinwirkung hin. Wieder im Volksmund gesagt: Er hat ein Rinderfilet gegessen, das zu scharf angebraten war. Jetzt sind Sie dran, Herr Kommissar.«
Jennerwein lächelte. Wenn er jetzt gut war, hatte man bis ins Jahr 2070 zwölf neue Beamtinnen des höheren Polizeidienstes, sie würden nicht an die Stahlindustrie verlorengehen.
»Er hat also ein zu scharf angebratenes Steak gegessen, irgendwann vor seinem Tod. Da ich annehme, dass er das nicht als Brotzeit in seinem Rucksack mitgenommen hat, hat er es vorher in einer Gaststätte gegessen.«
»Und da es vermutlich keine urige Berghütte gibt, in der ein Rinderfilet serviert wird«, mischte sich Maria ein, »hat er es höchstwahrscheinlich in einem Restaurant unten im Tal gegessen.«
»Ich kann es sogar noch genauer sagen«, schaltete sich die Frau im Rollstuhl ein. »Ich habe nämlich auch Sauce béarnaise entdeckt. Mit Zucker versetzt, meiner Ansicht nach mit viel zu viel. Sieht man von Alfons Schuhbeck ab, kocht so heutzutage kaum jemand mehr.«
»Ein guter Hinweis«, sagte Jennerwein. »Ein wahrscheinlich
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