Anne Gracie
1. Kapitel
Hampshire,
England November 1817
ie sah
aus wie eine
ertrinkende Madonna. Harry Morant konnte nicht anders, er musste sie einfach anstarren.
Sie hielt das Gesicht dem Himmel zugewandt wie eine Blume, die den Regen
begrüßt. Dunkles Haar klebte nass an ihren Wangen und fiel in dicken feuchten
Strähnen über das Ölzeug, in das sie eingehüllt war. Ihr makelloser, zarter
Teint schimmerte wie Perlen im feuchten, trüben Dunkel des Waldes, blass,
beinahe übernatürlich.
Harry
zügelte Sabre und ritt näher an das Fuhrwerk heran, das sich schwerfällig durch
den New Forest kämpfte. Er hielt das Pferd am äußersten Wegesrand, um den von
Kutschen und Karren aufgewühlten Morast zu vermeiden.
Sein
Begleiter, Ethan Delaney, warf ihm einen überraschten Blick zu und ritt
ebenfalls langsamer. Harry bemerkte es nicht. Er hatte nur Augen für die Frau.
Ihr Gesicht
war fein geschnitten und schmal mit hohen Wangenknochen. Die Nase war etwas
länger, als es dem Schönheitsideal entsprach, aber der Mund wirkte sinnlich,
weich und verletzlich. Harry starrte auf diesen Mund und schluckte.
Sie saß
hinten auf dem Karren. Hockte zwischen Fässern und Kisten wie ein in letzter
Minute dazwischengequetschtes Gepäckstück. Ihre Füße baumelten über der
Straße, ihre Schuhe und der Saum ihrer Röcke waren voller Schlammspritzer.
Neben ihr stand eine kleine Reisetasche.
Harry nahm
eine leichte Bewegung war; halb versteckt durch die Plane des Fuhrwerks und
dicht an die Frau geschmiegt lag ein schmutziger Spaniel. Er beobachtete Harry
wachsam, gab aber keinen Laut von sich.
Die Frau
schenkte der Straße kaum Beachtung, während die vier großen Zugpferde verbissen
durch den Morast stampften und sich mit dem Karren abmühten. Unbewusst passte
sie sich den schwankenden Bewegungen des Gefährts an. Den endlosen Schwall von
Flüchen, die der Kutscher von sich gab, schien sie gar nicht zu hören, zuckte
nur ab und zu zusammen, wenn die Peitsche wieder mal allzu laut knallte.
Sie wandte
den Blick nicht vom Himmel. Nicht ein einziges Mal.
Ein
Milchmädchen vielleicht oder eine junge Bedienstete, auf dem Weg zu ihrer neuen
Anstellung. Vielleicht auch die Tochter des Kutschers. Nein, den Gedanken
verwarf er gleich wieder. Dafür wirkte sie zu vernachlässigt. Es sei denn, der
Kutscher war ein Grobian.
Sie sah
erschöpft aus. Unter den Augen, die in dem blassen Gesicht übergroß wirkten,
hatte sie tiefe Ränder. Mit den bloßen Händen zog sie die Ölhaut fest um sich,
um sich wenigstens etwas vor dem Regen zu schützen. Sie trug keinen Ring.
Harry
verlangsamte Sabres Tempo, bis er seine Geschwindigkeit der des Fuhrwerks
angepasst hatte. Ethan seufzte resigniert auf und trieb sein Pferd an.
Sabre
tänzelte anmutig durch den aufgewühlten Matsch, so nah neben dem Karren, dass
Harry das Mädchen hätte berühren können. Nein, kein Mädchen, erkannte er, eine
Frau. Vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt.
Als sie den
Kopf senkte und ihre Blicke sich trafen, befanden ihre Gesichter sich beinahe
auf gleicher Höhe.
Harry
konnte sich nicht von ihrem Anblick losreißen. Ihre Augen hatten die Farbe von
dunklem Bernstein und waren dabei so ruhig und klar wie ein tiefer Waldsee. Ihr
zartes Gesicht schimmerte vor Nässe. Die blassen weichen Lippen waren leicht
geöffnet. Er war ihr jetzt so nahe, dass er die einzelnen Regentropfen an
ihren langen dunklen Wimpern erkennen konnte. Was sie wohl tun würde, wenn er
die Hand ausstreckte und einen dieser Tropfen mit dem Finger auffing? Doch
noch, während er das dachte, blinzelte sie und die Gelegenheit war verstrichen.
Auch gut.
Es war ohnehin ein verrückter Einfall gewesen.
Durch die
Nässe wirkte ihr Haar ganz dunkel. Er fragte sich, welche Farbe
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