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Niedertracht. Alpenkrimi

Niedertracht. Alpenkrimi

Titel: Niedertracht. Alpenkrimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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Vater drängte zum Weiterwandern, der Putzi steckte das Fernglas in die Hülle. Aus irgendeinem Grund zögerte er, den Vater auf die Gams in Bergnot hinzuweisen. Vielleicht wollte er dem Vater den schönen Tag nicht verderben. Vielleicht war er der Meinung, dass der Entdecker eines Problems dieses Problem dann auch selbst lösen müsste. So oder so ähnlich hatte das Fräulein Wetzel im Ethikunterricht gesagt. Viel später fand er noch einen Grund. Er hatte damals auch insgeheim befürchtet, dass der Vater herzlos genug sein könnte weiterzugehen, um das Tier seinem vorhersehbaren Schicksal zu überlassen. Der psychologisch Interessierte wird sicherlich noch weitere Gründe für die sonderbare Passivität des Knaben finden. Der Putzi steckte das Fernglas jedenfalls in die Hülle und schwieg. Daheim warteten ein Apfelkuchen und süße Erdbeerlimonade, Vater und Sohn stapften also nach Hause, dem Putzi schmeckte es jedoch nicht. Er träumte in dieser Nacht auch schlecht. Noch vor dem Frühstück betete er zu einem konturlosen Gott, das Tier möge doch irgendeinen Weg finden, dem ausgesetzten Gefängnis zu entkommen. Am Nachmittag gab er vor, spazieren gehen zu wollen, um das neue Fernglas auszuprobieren. Die Gams stand immer noch an der Stelle, sie blickte starr in die Weite. Dann schnupperte sie plötzlich und unvermittelt an der Felskante, die in den Abgrund führte, sie reckte den Kopf und blickte hinunter, sie schien abzuschätzen, ob sich solch ein Sprung hinunter in die Tiefe nicht doch durchführen ließe. Die Gemse drehte sich wieder um, stellte jetzt die Vorderbeine auf den Fels, der nach oben führte. Keine Chance. Und ab jetzt ging der Putzi jeden Tag hin zu der Stelle. Eine
idée fixe
hatte ihn erwischt, die sich immer mehr verfestigte und zu einer massiven Zwangsvorstellung auswuchs. Ihm graute gleichzeitig vor dem Gedanken, dort hinzugehen, und vor dem Gedanken, nicht mehr dort hingehen zu können. Er dachte den ganzen Vormittag an die Gams, nach der Schule lief er sofort los, über den Philosophenweg hinauf zur Kuhflucht und beobachtete die Alleingelassene mit dem Fernglas. Warum, so fragte sich der Zehnjährige, machte die Gemse ihrem Leiden kein Ende und sprang hinunter? Sie schien das zu erwägen, mehrmals und immer wieder, sie schien Anlauf zu nehmen, zum erlösenden Sprung, die zwei oder drei Trippelschritte, die ihr blieben, bremste aber jedes Mal wieder ab. Das geht nicht so weiter, dachte sich der Putzi am zweiten Tag. Ich muss es jetzt endlich jemandem sagen. Dem Vater vielleicht gerade nicht, der ist zu hart und unsensibel, der Mutter erst recht nicht, die schimpft und schlägt. Er ging alle Verwandten durch, seine Freunde, seine Lehrer, er fand keinen geeigneten Beichtvater, der das verstehen würde. Sein Onkel!? Der war ein Jäger, zwar längst pensioniert, aber ein Jäger, der müsste doch verstehen können, was es heißt, sich herumzuschleichen und auf der Pirsch zu sein. Aber auch das war keine Lösung. Der Onkel würde am Ende doch bloß hingehen und die Gams erschießen. So schwieg der Putzi weiter, die ganze Woche über, und die Gemse wurde von Tag zu Tag matter. Sie blickte jetzt traurig in den Abgrund, scheinbar nachdenklich wandte sie sich um und starrte die Wand an. Sie machte keine ernsthaften Versuche mehr, einen Ausweg zu finden. Am vierten Tag hatte sie sich schon hingelegt, das war ein seltsames Bild, ein eigenartiges, rares Bild, eine liegende Gemse, das hatte vermutlich überhaupt noch niemand gesehen, dachte der Putzi. Sie leckte sich das Fell, was den Putzi besonders rührte. Diese Fellpflege: ein sinnloses Unterfangen angesichts des nahen Todes. Dann, am fünften Tag, kam ihm der Gedanke, die Bergwacht zu alarmieren, anonym selbstverständlich. Aber würden die wirklich einen teuren Einsatz wegen einer matten Gemse fahren? Der Putzi hatte sogar einen ganz verwegenen Gedanken, nämlich den, sich bei diesem Onkel, dem Jäger, einzuschleichen, dessen Gewehr zu entwenden und die Gemse eigenhändig zu erschießen. Aber der Putzi wusste nicht, wie man solch ein Gewehr lädt und wie man schießt. Und wenn er nicht richtig träfe? Und wenn man ihn auf dem Weg dorthin mit dem Gewehr erwischte? Am sechsten Tag nahm er einen Zettel und schrieb mit verstellter Schrift eine Nachricht für den Jägeronkel: Kuhflucht, kleiner Hang am rechten Rand, bitte kommen, Gemse in Bergnot. Der Putzi zerriss den Zettel. Lächerlich. Mit einer Mischung aus Grausen, Selbstvorwürfen und Neugier ging

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