Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
Tagesprobleme zu kümmern«, wie sich im Brockhaus nachlesen lässt. Dieser »Elfenbeinturm« ist eine Erfindung des französischen Schriftstellers und Literaturkritikers Charles Augustin Sainte-Beuve (1804–1869) in Bezug auf das Werk des Dichters Alfred Comte de Vigny (1797–1863). In dessen Texten treten talentierte Personen auf, die innerhalb einer verständnislosen, weil materialistisch orientierten Gesellschaft keinen Platz finden und sich deshalb – in einer eher melancholischen Gestimmtheit – von ihr fernhalten. Sie ziehen sich in einen Elfenbeinturm zurück, wie Sainte-Beuve es in durchaus positivem Sinn ausgedrückt hat, um frei von Alltagsbelastungen ihrem Werk zu leben.
Zum Glück hat es zahlreiche solche Elfenbeintürme der Wissenschaft in der Geschichte der Physik gegeben. Dazu gehörte zweifellos auch das Seminar, das in den 1920er Jahren unter der Leitung von Max Born in Göttingen stattfand, wo nicht nur Heisenberg und Pauli zu den Teilnehmern zählten, sondern auch aufstrebende amerikanische Genies wie Norbert Wiener oder J. Robert Oppenheimer. Wiener gilt als der Begründer der Kybernetik, er untersuchte die Steuerungsprozesse in Mensch und Maschine und veröffentlichte seine Ergebnisse in Mensch und Menschmaschine: Kybernetik und Gesellschaft. Oppenheimer leitete später das Institute for Advanced Studies in Princeton und schenkte damit der Neuen Welt ihren eigenen Elfenbeinturm, an dem zum Beispiel Albert Einstein die Möglichkeit fand, mit dem aus Wien stammenden Mathematiker Kurt Gödel (1906–1978) die Grenzen der Logik und die Entscheidbarkeit von wissenschaftlichen Fragen zu erörtern.
Bohrs Institut am Blegdamsvej in Kopenhagen und Borns Seminar in Göttingen verstanden sich ausdrücklich als Refugien für einige höchst intellektuell veranlagte Mitglieder der Spezies »Homo scientificus« wie Oppenheimer, Gamow oder seinen russischen Landsmann Lew Landau. Sie hatten es als Exzentriker mit ihren Schrullen in der Gesellschaft nicht leicht, und einige von
ihnen kamen mit den normalen Alltagsverrichtungen oft nicht zurecht.
Doch gerade die Forscher, für die solche Elfenbeintürme geschaffen worden waren, hielt nichts mehr an diesen Zufluchtsstätten, als die Gesellschaft sie und ihre Fähigkeiten brauchte. So empfahl zum Beispiel Norbert Wiener schon früh, sich angesichts der technischen Entwicklung von intelligenten Maschinen Gedanken über The Human Use of Human Beings zu machen und zu fragen, ob die Menschen den Maschinen oder die Maschinen den Menschen überlegen seien und wie die Menschen die gesellschaftliche Führungsrolle beibehalten wollten. Max Born wies in seinen Schriften wiederholt daraufhin, dass wissenschaftlich-technische Errungenschaften, die als Leistung des menschlichen Verstands gefeiert werden, zugleich auch ein Versagen der Vernunft anzeigen können. Und schließlich ist der öffentliche Ruhm von Oppenheimer vornehmlich durch sein erstaunliches Management des Manhattan-Projekts und seinen organisatorischen Einsatz in Princeton in den Jahren nach 1950 begründet, bei dem er erfolgreich versuchte, Dichter wie T. S. Eliot und Wissenschaftler zusammenzubringen, um das Gemeinsame der menschlichen Kultur zu finden und im Dialog zu erfassen.
Die Möglichkeit, im »Geist von Kopenhagen« in einem Raum voller Mitmenschlichkeit und gegenseitigem Vertrauen zusammenzukommen, wurde nach 1933 mit deutscher Gründlichkeit zunichtegemacht.
Flüchtlinge
Die Spaltung der Wissenschaftler hatte 1933 begonnen. In Deutschland hatten die Nationalsozialisten im Januar dieses Jahres die Macht übernommen, und bereits Anfang April 1933 legten sie das zwar harmlos klingende, jedoch infame »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vor, mit dem Personen aus ihren Positionen entfernt werden konnten, wenn sie sich zu einer
bestimmten Religion bekannten oder wenn sich eine entsprechende Zugehörigkeit auf irgendeine willkürliche Art konstruieren ließ. »Juden raus« lautete der staatliche Auftrag, der von Hitlers willigen Helfern fleißig befolgt wurde. Viele berühmte und preisgekrönte Wissenschaftler an deutschen Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen wie denen der 1911 gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft wurden vertrieben.
Einer der Vertriebenen war James Franck (1882–1964), der gemeinsam mit Gustav Ludwig Hertz (1887–1965) den berühmten Frank-Hertz-Versuch durchgeführt hatte, der in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg die Existenz diskreter
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