Night School 03 - Denn Wahrheit musst du suchen
Moment lang standen Allie und Zoe reglos da und richteten die Augen auf Nicole, die hier ja offenbar die Entscheidungen traf. Zoe deutete energisch auf die Tür. Nicole schüttelte den Kopf.
Zoe kniff die Augen zusammen und deutete erneut mit dem Finger auf die Tür – diesmal mit noch mehr Nachdruck. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie nicht daran dachte, nachzugeben. Nach einer Weile hob Nicole kapitulierend die Hände.
Als alle drei sich in Bewegung setzen wollten, drehte Nicole sich zu Allie um und machte eine abwehrende Geste: »Du wartest hier.«
»Ach, komm schon …«, bat Allie mit den Lippen.
Doch Nicole ließ sich nicht erweichen. Sie deutete heftig auf den Boden zu Allies Füßen.
Jeder Muskel in Allies Körper war gespannt, bereit für den bevorstehenden Kampf. Bereit, Jos Mörder zu fangen, falls er dort drin sein sollte. Bereit, ihm wehzutun.
Aber Nicole würde sie nie im Leben als Erste hineingehen lassen.
Meinetwegen. Sollen die eben als Erste reingehen. Ich bleibe ihnen einfach auf den Fersen.
Sie nickte, zum Zeichen, dass sie gehorchte. Zoe warf ihr einen kurzen Blick zu, ehe sie zur Tür schlich, wo sie auf Nicole wartete, die im nächsten Moment neben ihr stand.
Nicole deutete auf etwas, das Allie nicht sehen konnte, und dann waren beide verschwunden.
Sobald sie außer Sicht waren, lief Allie zur Tür und verbarg sich im Halbdunkel daneben. Falls jemand herauswollte, konnte sie zuschlagen, ehe derjenige wusste, wie ihm geschah.
Wie eine Statue stand sie da und starrte so lange ohne zu blinzeln in den Durchgang, dass sich ihre Augen mit kalten Tränen füllten. Sie lauschte angestrengt – nach einem Schrei, einem Hilferuf, irgendetwas. Doch sie hörte nur den Bach in der Nähe vorbeidonnern und ihr Herz, das erstaunlich regelmäßig schlug.
Just als sie schon dachte, die Ungewissheit würde sie in den Wahnsinn treiben, tauchte Zoe im Durchgang auf. Das Kerzenlicht hinter ihr schien so hell, dass es im ersten Moment so aussah, als stünden ihre Haare in Flammen.
Wortlos bedeutete sie Allie, ihr zu folgen.
Die Luft im Innern der Kirche stand, es war heiß. Es duftete nach Rauch und schmelzendem Wachs. Der Luftzug, der durch die Bewegungen ihrer Körper entstand, brachte die Flammen der Kerzen zum Tanzen. In diesem Lichtertanz schienen die mittelalterlichen Gemälde auf den grauen Steinmauern zum Leben zu erwachen.
So ist es auch gedacht
, begriff Allie.
Genau so soll man sie betrachten.
Auf einer Wand stieß ein gigantischer roter Teufel arme Sünder hinab in die Hölle, während andere über eine Leiter in den Himmel hinaufkletterten, der Rettung entgegen – doch wieso sahen sie dann so verängstigt aus?
Anderswo schnappte ein Drache in die Lüfte, wo eine Taube nur ganz knapp seinen Klauen entkam. Bislang hatten die Farben auf sie immer angejahrt und matt gewirkt, doch jetzt im Kerzenschein schimmerten die rostroten Schuppen des Drachen, als wären sie lebendig.
Zoe und Nicole hatten dafür freilich keinen Blick. Sie starrten auf das Wandgemälde einer Eibe, die jener auf dem Friedhof sehr ähnlich sah. Die gemalte Version war indes voller farbenfroher Früchte und Vögel. Ihre verschlungenen Wurzeln bildeten die Worte »Baum des Lebens«. Dies war Allies Lieblingsgemälde in der überladenen Kapelle.
Und genau vor diesem Gemälde waren die Kerzenleuchter sorgfältig in einem Halbkreis aufgestellt worden.
Als sie näher trat, bemerkte Allie, dass sich auf dem Gemälde noch etwas anderes befand.
»Was ist das?«, wisperte sie.
»Eine Botschaft«, antwortete Nicole, ohne die Augen von dem Bild zu wenden. Langsam hob sie die Hand und deutete darauf.
Da erst sah Allie das gefaltete Blatt Papier, das jemand mit einem Jagdmesser in Höhe des Baumstamms an die Wand gespießt hatte.
Wer tut so was?
, dachte sie empört.
Wer beschädigt ein Gemälde, das fast tausend Jahre alt ist?
Dabei wusste sie ganz genau, wer so etwas tat.
Langsam, wie im Traum, trat sie in den Halbkreis aus Kerzen. Sie hörte, wie Zoe und Nicole warnend ihren Namen flüsterten und sie aufforderten, stehen zu bleiben.
Doch sie hörte nicht auf sie. Sie konnte nicht stehen bleiben.
Denn auf dem Papier stand, in einer selbstbewussten, nach links geneigten Handschrift, nur ein einziges Wort: »Allie«.
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Zwölf
Der aufwendig verzierte Schaft des Dolchs fühlte sich kalt an, doch das focht sie nicht an. Mit einem Ruck riss sie ihn aus der alten Steinmauer. Das Dokument löste sich, und Allie
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