Engelstrompeten: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
Engelstrompeten
Wenn überhaupt jemand hätte vorhersehen können, dass sie in dieser hellen Augustnacht sterben würde, dann Wanda Sieveking selbst. Und vielleicht hätte sie es sogar zu verhindern gewusst.
Aber sie zog wie immer, wenn sie zu ihrer geheiligten Stunde am Swanti aufbrach, behutsam das Gartentor ins Schloss, das trotzdem leise in den Angeln knarrte. Sie sah in ihren Garten zurück, zuerst auf die mannshohen Königskerzen und dann auf die Rosenstöcke rechts und links der Haustür. Das gelbliche Licht der Hoflampe verlieh ihnen einen dunklen, fast kupferfarbenen Ton, der erst in der Morgendämmerung nach und nach wieder heller werden würde, bis die Blüten schließlich wie jeden Tag des Sommers granatrot vor der weißen Hauswand leuchteten. Seit Tagen nahm sie sich vor, die wuchernde Pracht zu stutzen. Wenigstens über der Tür, damit nicht jeder, der ins Haus ging oder herauskam, Gefahr lief, sich das Gesicht zu zerkratzen.
Morgen früh, dachte sie, wenn die Blüten frisch sind, weil sie in der feuchten Nachtluft Kraft geschöpft haben, werde ich wenigstens den Türstock freischneiden.
Wie zur Bestätigung ihres Entschlusses schlug sie leicht mit der flachen Hand auf den Eisenrahmen des Gartentores, dann machte sich Wanda auf den Weg Richtung Wald.
Im hohen Gras war der sandige Pfad kaum sichtbar, auf dem sie bedächtig einen Fuß vor den anderen setzte, um die schmale Spur nicht unnötig breit zu treten. Wie feiner Staub stiegen Pollenwolken auf, als sie ihre gespreizten Hände durchs hohe Gras zog. Sie genoss die Berührung der Ähren an ihren Fingerspitzen und den Duft von wilder Kamille.
Erst im Wald wurden ihre Schritte ausholender, fester, und sie spürte, wie der Weg unter ihren Füßen federte. Trotz ihrer zweiundsiebzig Jahre wirkte sie alles andere als alt. Mit ihrer großen, kräftigen Statur stand sie in jeder Hinsicht mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Die Menschen, die ihr in fünfundvierzig Berufsjahren anvertraut gewesen waren, hatten das zupackend Verlässliche an Schwester Wanda zu schätzen gewusst. Ganz besonders aber ihr Gespür dafür, dass Zuspruch und eine tröstende Hand wichtiger sein konnten als alles andere.
Wanda wusste, wie sich die Kräfte des Lebens anfühlten. Und sie glaubte, den Tod zu kennen.
Die Energie, die er vorausschickte. Die sich ausbreitete wie Nebel über dem Meer und einhüllte, was er in seine Welt mitzunehmen beschlossen hatte.
Aber jetzt und hier, zwischen den grauen Säulen der Buchenstämme, schwieg der Tod. Gab kein Zeichen, kündigte sich nicht an. Überließ Wanda der Stille, die sie so liebte, und der Weite des Himmels über den Baumwipfeln, in der alles Schwere, Enge sich auflösen konnte.
Vom fahlen Mondschein überflossen lag der Dornbusch vor ihr, als sie am Klausner den Wald hinter sich ließ. In der bleichen Helligkeit fand sie mühelos ihren Weg. Unter dem monotonen Lichttakt des Leuchtturms hindurch, über den Honiggrund den letzten steilen Anstieg zum Swanti hinauf, bis sie hoch über dem Meer wie am Rand der Ewigkeit stand.
Im Schimmer des Mondlichts ließ sich ein Schiff als dunkler Schemen vorm Horizont ausmachen.
In der Tiefe dümpelte die See wie träge schwappendes Quecksilber zwischen den Buckeln der Findlinge. Dunkles Wasser spülte eine schmutzig weiße Schaumlinie ans Ufer und leckte einen feuchten Streifen in den Sand am Fuße des Kliffs, bevor es fast geräuschlos zurückglitt.
Hoch oben verglühte eine Sternschnuppe über allem wie ein sacht verklingender Ton.
Nirgendwo sonst ließ sich besser Abschied von den Geistern des Tages nehmen. Von dem, was sie gebracht hatten und jetzt wieder mit sich nahmen in die dunkle Höhle der Nacht.
Es gab keinen anderen Ort, an dem Wanda sich so durchströmt fühlte von der unendlichen Energie, die alle Welten miteinander verbindet, alles durchdringt und beseelt. Die nur spüren und schöpfen kann, wer sich ihr ganz überlässt.
Unter ihren nackten Füßen im Gras glaubte sie den Herzschlag der Erde zu spüren. Sie hob die Arme und bewegte sich in seinem Rhythmus langsam im Kreis, bis sie mehr erstaunt als erschrocken innehielt. Einen Wimpernschlag später wusste sie, was geschehen würde.
Ausgerechnet hier, dachte sie.
1
Um Viertel vor sechs schloss Polizeiobermeister Daniel Pieplow den letzten Uniformknopf.
Zehn Minuten, hatte Kästner gesagt.
Genug Zeit, um kalt zu duschen, während der Kaffee durchlief. Es kam nur selten vor, dass seine Junggesellenmarotten ihren
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