Night School. Der den Zweifel sät (German Edition)
erwartete. Der enge Kellerflur erschien ihr länger als sonst, und dunkler. Sie hatte sich noch nie so einsam gefühlt.
Vor der Tür entdeckte sie unvermutet Sylvain und wurde instinktiv von Panik ergriffen. »Was machst du denn hier? Stimmt was nicht?«
Seine Blutergüsse waren noch prominent zu sehen, das eine Auge war noch fast ganz zugeschwollen, und die Platzwunde an der Lippe sah schmerzhaft aus. Dennoch versuchte er zu lächeln.
»Nein, nein. Ich wollte dir nur viel Glück wünschen.«
Vor Rührung brachte sie erst mal kaum ein Wort heraus. Sie verkniff sich einen Kommentar und sagte stattdessen: »Ich hab gehört, was sie dir aufgebrummt haben. Tut mir echt leid.«
»Muss dir nicht leidtun«, entgegnete er und sah ihr in die Augen. »Mir tut’s auch nicht leid.«
»Aber es war mein Fehler, Sylvain«, sagte sie leidenschaftlich. »Und jetzt hast du die Schwierigkeiten …«
»Es war die Sache wert«, sagte er, und als sie erneut protestieren wollte, streckte er die Hand aus und hob ihr Kinn, bis ihre Blicke sich trafen. »Es war mir die Sache wert, Allie.«
Sie gab sich alle Mühe, zu überspielen, wie ihr zumute war, doch die eine Träne konnte sie nicht unterdrücken, und die verriet sie. Er wischte sie zart weg.
»Courage!«,
sagte er auf Französisch. Dann ging er zur Tür. »Die sollen dich nicht weinen sehen.«
Allie atmete tief durch und nickte, um zu zeigen, dass sie bereit war. Er öffnete ihr die Tür.
Drinnen stand ein Tisch, hinter dem sich vier Stühle befanden, ähnlich wie an dem Tag, als die Night-Schooler mit ihren Befragungen begonnen hatten. Nur, dass diesmal auf der gegenüberliegenden Seite lediglich ein Stuhl stand. Für den Bruchteil einer Sekunde erwog Allie, einfach kehrtzumachen und wegzurennen. Weg aus der Schule.
Dann trat sie ein.
Der Raum war kühl und roch schwach nach staubigem Beton und abgestandenem Schweiß. Zelazny, Jerry Cole, Eloise und Isabelle saßen am Tisch und musterten sie.
»Bitte setz dich, Allie«, sagte Eloise und sah mitfühlend zu, wie Allie sich steif auf den kalten Metallklappstuhl setzte. Die Gesichter der anderen blieben ausdruckslos.
»Du stehst heute hier, weil du gegen die Internatsordnung verstoßen hast, indem du dich nach der Nachtruhe ohne Erlaubnis mit einem von Nathaniels Leuten getroffen hast.« Isabelle hatte die Hände vor sich verschränkt. Ihr helles Haar wurde hinten von einer Spange zusammengehalten, und die schmale Brille, die sie trug, ließ ihr Gesicht kantig erscheinen. »In deiner Begleitung befand sich Sylvain Cassel, der dies dem Tribunal bereits bestätigt hat. Hast du diesen Vorwürfen etwas entgegenzusetzen?«
Allie hielt ihrem Blick stand. »Nein.«
»Allie, du bist hier, weil wir dir Gelegenheit geben wollen, Argumente zu liefern gegen einen Ausschluss von der Night School und von Cimmeria, der schwersten Strafe, die dieses Tribunal verhängen kann«, sagte Eloise freundlich. »Nenne uns also bitte sämtliche mildernden Umstände – Gründe, die deine Tat rechtfertigen. Bitte schildere uns zunächst, was in dieser Nacht passiert ist. Warum hast du gegen die Regeln verstoßen?«
Allie erzählte, was sich in der besagten Nacht ereignet hatte, und ihre anfangs zittrige Stimme wurde mit der Zeit immer fester und klang schließlich klar und selbstsicher. Als sie zu der Stelle kam, wie Gabe sie überfallen und vom Weg gezerrt hatte und sie sich danach wieder befreit hatte, sah sie den Anflug eines Lächelns über Isabelles Gesicht huschen. Erneut ließ sie weg, wie Christopher über die Rektorin hergezogen hatte, und sagte nur: »Ich übernehme die volle Verantwortung für alles, was in dieser Nacht passiert ist. Sylvain hat an alldem keine Schuld. Hätte ich ihm nicht gedroht und seinen Rat ausgeschlagen, wäre er nicht mitgegangen. Er hat nur versucht, mich zu beschützen.«
Sofort warf Zelazny ein: »Und wieso haben Sie seinen Rat nicht befolgt?«
Mit leerer Miene wandte Allie ihm den Blick zu. »Weil ich wusste, dass Sie sich dann Christopher geschnappt hätten, und das wollte ich nicht.«
»Ach, gewusst haben Sie das?«, fragte Zelazny sarkastisch. »Wie hätten Sie denn wissen können, was wir tun würden? Können Sie Gedanken lesen?«
»Wollen Sie das abstreiten?«, fragte Allie postwendend zurück.
»Nicht ich stehe hier vor Gericht«, sagte er. »Vergessen Sie das nicht.«
»Niemand steht hier vor Gericht«, schaltete sich Jerry Cole ein, um die Situation zu beruhigen. Sein drahtiges, braunes Haar war
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