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Mein schwacher Wille geschehe

Titel: Mein schwacher Wille geschehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Nutt
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|7| Vorwort
    You can always come back,
    but you can’t come back all the way.
    Bob Dylan
    Lasterhaft sind immer die anderen. An den Ringen unter den Augen liest man die Ausschweifungen vorangegangener Nächte ab, und ihre Leibesfülle verrät deren Unbeherrschtheit bei Tisch und vorm Fernseher. Unzuverlässig, schlampig, desorganisiert. Mit sich ist man nachsichtiger. Einer geht noch. Die lästigen Pflichten müssen warten, die Gebote haben frei. Im Kampf um die tägliche Selbstbehauptung sollte man auch mal in der Lage sein, der drängelnden inneren Stimme Redeverbot zu erteilen. Es gibt, sagt der Philosoph Blaise Pascal, Vernunftgründe des Herzens, die der Verstand nicht versteht. Der Erfinder des Roulettes hatte eine Ahnung davon, wie eigenwillig die Kugel oft fällt. Und so handeln wir, im Großen wie im Kleinen, wider besseres Wissen. Jedenfalls befolgen wir nicht immer, was wir uns vorgenommen haben. Mitunter ist das ein Segen, bisweilen ist es tragisch.
    Die griechischen Philosophen haben dafür das Wort
akrasia
gefunden. (Von griechisch
kratos
, Stärke, bezeichnet
akrasia
den Mangel an Stärke.) Es ist nicht erst die achte Zigarette oder das vierte Glas Wein, die als Verstöße gegen innere oder von außen auferlegte Gebote durchgehen. Man ist schon bei viel harmloseren Dingen in der Lage, das Unsinnige zu tun und das Naheliegende zu lassen. In diesem Buch geht es um Willensschwäche und die unentwegte Bereitschaft, die gefassten Vorsätze wieder zu verwerfen. Danach kommt oft Reue ins Spiel oder auch ein stilles Kopfschütteln über das eigene Tun.
    Es gibt keine Negativliste der lasterhaften Erscheinungen, deren |8| Punkte man einfach nur großräumig zu umgehen braucht. Da hatte es die klassische Theologie leichter, die die so genannten Wurzelsünden kategorisiert hat:
superbia
(Hochmut),
avaritia
(Geiz),
luxuria
(Genusssucht, Wollust),
ira
(Zorn),
gula
(Völlerei),
invidia
(Neid) und
acedia
(Faulheit) wurden zwar nicht als Sünden an sich betrachtet. Man nahm aber an, dass sie diesen oft vorausgingen. Bis heute werden sie als schlechte Charaktereigenschaften angesehen, aber semantisch haben die Begriffe Staub angesetzt. Einige der Wurzelsünden gehören, wenn auch in kontrollierter Form, längst zur Grundausstattung erfolgreicher Lebensführung. Wer Faulheit geschickt inszeniert, dem attestiert man Lebensstil, und mit wohl dosiertem Zorn hat man sich seit jeher Respekt verschaffen können.
    Was noch immer als Laster durchgeht, findet sich denn auch in keinem an die modernen Kommunikationsformen angepassten Knigge für Beruf und Privates. Zwar sind wir dauernd dabei, für das tägliche Be- und Überstehen Zweit- und Drittmeinungen einzuholen, und an Wegweisern mangelt es nicht. In allen nur erdenklichen Formen werden Verhaltensratgeber für Weingenuss, Sex, Öko-Etikette und anderes verbreitet. Dabei geht es dann ausdrücklich nicht um Wollust. Zu keiner Zeit hat es vermutlich derart viele Freiheiten wie Techniken gegeben, die Bandbreite der Wollust auszukosten und als bedeutendes Merkmal der Selbstbestimmung zu gestalten. Mehr oder weniger sexuell befreit kommt es auf Entscheidungen an, die der Multioptionalität auch gerecht werden. Man hat die Wahl, und es fällt immer schwerer, sie zu unterlassen. Wein, Weib und Gesang verlangen ein fein ausgearbeitetes Unterscheidungsvermögen. Sogar Unangepasste können Hinweise auf ein unkonventionelles Leben aus hinlänglich zur Verfügung stehender Literatur beziehen. Kleidung und Verhaltenshinweise gibt’s für den von Jürgen Kaube trefflich beschriebenen »Otto Normalabweicher« von der Stange, auch in Übergröße. Individuelle Mucken können intensiv gelebt oder auf |9| Sozialverträglichkeit hin abgeglichen werden. Je nach Bedarf gibt es Angebote zur Zügelung oder Entfesslung der charakterlichen Anlagen. Wer seine Laster lebt, ist ebenso geachtet wie derjenige, der sie beherrscht. Die permanente Selbstbefragung und Sinnsuche gehören zu einem identitätsbildenden Prozess, aus dem man nicht herauskommt.
    Ein Hilfsangebot mit dem Titel
Lasterfrei in 30 Tagen
wird man nicht finden. Es ist nicht einmal wahrscheinlich, dass es auf starke Nachfrage stoßen würde. Rundum sorglos mag man vielleicht leben wollen, aber man schreckt davor zurück, rundum tugendhaft zu sein. Von den sieben Todsünden scheint nur noch wenig Bannkraft auszugehen. Die Angst, ihnen zu nahe zu kommen, ist schwach ausgeprägt, ein bisschen Sünde steigert Ansehen und Selbstwertgefühl.

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