Night School. Der den Zweifel sät (German Edition)
berichten, dass auch Christopher nichts mehr von sich hatte hören lassen. Wann immer sie ihr Zimmer betrat, wanderte ihr Blick sofort zum leeren Schreibtisch und suchte nach dem Umschlag aus dickem, cremefarbenem Papier, auf dem in linksgeneigter Handschrift ihr Name geschrieben stand. Aber von einem Umschlag keine Spur.
Die ganze Zeit hielt sie sich beflissen an die Internatsordnung: jeden Abend um elf auf ihrem Zimmer; nie zu spät zum Essen oder zum Unterricht. Und als die Night School wieder losging, diesmal mit dem Schwerpunkt Training und Strategie, saß sie aufrecht da und sah unverwandt auf Raj Patel. Blendete Carter und Sylvain ebenso aus wie alles, das nichts damit zu tun hatte, im Wald, im Dunkeln, Auge in Auge mit Gabe zu überleben. All ihre Trauer, Verwirrung und Wut ließ sie ins Training einfließen, wo sie lernte, sich mit Händen und Füßen zu verteidigen. Was ihr im Übrigen große Befriedigung verschaffte.
Genau das erwartete Isabelle von ihr, und ganz allmählich bekam Allie den Eindruck, dass sie ihr vergab.
Eines Nachmittags, als sie auf dem Weg zu Isabelle die Haupttreppe hinunterging, entdeckte sie Katie Gilmores unverkennbaren wippenden, roten Pferdeschwanz. Wie immer versuchte Allie, Katie aus dem Weg zu gehen, doch zu ihrer Überraschung stellte die sich ihr in den Weg.
»Hey, Allie«, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln und entblößte dabei ihre ebenmäßigen weißen Zähne.
Herrgott noch mal
, dachte Allie,
sogar ihr Lippenstift ist perfekt. Wie macht sie das nur?
»Was gibt’s, Katie?« Allie versuchte, das Misstrauen in ihrer Stimme zu verbergen.
»Freitag gehen alle hoch zum Turm und machen ein Lagerfeuer«, sagte Katie. »Eine Tradition unter den älteren Schülern. Komm doch mit.«
»Moment mal.« Allie starrte sie ungläubig an. »
Du
lädst
mich
auf eine Party ein?« Sie machte eine dramatische Pause. »Hast du vergessen, deine Pillen einzunehmen, Katie?«
»Ach, sei nicht albern, Allie.« Katies Lächeln war auf verstörende Weise engelsgleich. »Es ist eine große Party. Ich weiß, dass du mit Carter Probleme hast, deshalb wollte ich mich nur vergewissern, dass du nicht irgendwo rumsitzt und Trübsal bläst. Also, kommst du?«
Bei dem Wort
Carter
sträubten sich Allie die Nackenhaare. Die Art, wie Katie seinen Namen ausgesprochen hatte, machte sie nervös. Katie hatte das mit Bedacht gesagt. Als hätte sie mit ihm etwas vor.
Vergiss nicht, dass du auf Bewährung bist,
ermahnte Allie sich und rang sich irgendwie ein gelangweiltes Schulterzucken ab.
»Mal sehen. Muss viel lernen.«
»Hervorragend.« Katie sah erfreut aus. »Wir haben eine Ausnahmegenehmigung, über die Nachtruhe hinaus draußen zu sein. Ich hoffe, du kommst. Wird bestimmt eine Mordsgaudi.«
Während Allie ihr nachsah, breitete sich in ihrem Bauch ein Gefühl von Misstrauen aus.
Was hast du vor, du fiese rothaarige Schlange?
Dreiundzwanzig
Als Allie am selben Nachmittag Isabelles Büro betrat und mit hochgezogenen Augenbrauen die übliche Frage stellte, sah Isabelle sie nur über den Brillenrand hinweg an und schüttelte wie üblich den Kopf. Mit einem Seufzer ließ Allie sich in den Sessel vor dem Schreibtisch fallen.
»Katie Gilmore hat gesagt, ich solle mit auf die Party kommen, die Freitagabend oben auf der Burg steigt. Vermutlich sollte ich gerade deshalb lieber nicht hingehen.«
Isabelle nahm ihre Brille ab und legte sie auf den Papierstapel vor sich. »Ich finde nicht, dass du deinen Veranstaltungskalender danach ausrichten solltest, was Katie Gilmore passt oder nicht passt.«
»Sie meint, es wär erlaubt«, sagte Allie. »Stimmt das? Für Mädchen auf Bewährung, meine ich.«
Isabelle winkte ab. »Erlaubt, wie du es nennst, ist es insoweit, als die Teilnahme nicht bestraft wird. Diese Party ist eine Institution. Den Schülern wird zugetraut, dass sie schon nicht den ganzen Wald niederbrennen werden. Von den Lehrern wird sich keiner blicken lassen. Die Nachtruhe wird um eine Stunde verlängert. Wenn alle sich manierlich benehmen, findet die Party nächstes Jahr wieder statt. Den Brauch gibt es, seit die Burg eingestürzt ist; als ich Schülerin war, haben wir natürlich auch dort gefeiert.«
Allie versuchte, sich vorzustellen, wie ihre sechzehnjährige Mutter mit der sechzehnjährigen Isabelle am Feuer saß, doch es gelang ihr nicht. »Sind wir da denn …«, fragte sie und hob die Schultern, »Also … sind wir da sicher?« Es fühlte sich immer noch komisch an, über Security
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