Zurück ins Licht (Das Kleeblatt)
Prolog
Susann Seiler gehörte zu jener Sorte Mensch, die durch leidvolles Erleben wusste, dass es am Gepäckband der Flughäfen Schwarze Löcher gab, in die ihre Koffer mit konstanter Boshaftigkeit fielen. Sie hatte am eigenen Leib erfahren, dass sie bei jeder Zugfahrt neben gemütlich schnarchenden Schläfern saß. Oder neben dem ausgeflippten Teeny mit hochgedrehtem Discman, dessen schrille Töne und stampfenden Rhythmen jedes Trommelfell in Elementarteilchen zerfallen ließ. Wo immer sich ein Fettnäpfchen auftat – und hatte es sich noch so gut getarnt –, sie erwischte es mit schlafwandlerischer Sicherheit. Bis sie eines schönen Tages davon überzeugt war, dass ihr Leben dem Prinzip der maximalen Schweinerei gehorchte.
Wäre es da nicht allzu verständlich gewesen, hätte sie im Laufe der Jahre eine Art negative Energiedichte entwickelt? Jeder andere Mensch hätte zu Recht seine Stellung und sein Selbstverständnis im Universum hinterfragt und wäre vermutlich nur zu gern zum personifizierten Urknall geworden. Nicht so Susann Seiler, die allen Widrigkeiten zum Trotz Ruhe und Gelassenheit kultiviert zu haben schien, was sich auch an diesem Morgen als unschätzbarer Charakterzug erwies.
Wieder einmal hatte sie sich den mit Abstand mickrigsten Verkaufsstand ausgesucht. Hatte sie nicht sogar vorher gewusst, an dieser Bude in der Schlange der Unendlichkeit zu landen? Gleichwohl musste sie sich – wahrscheinlich in einem Moment übergroßen Mitleids – für die langsamste aller Verkäuferinnen entscheiden. Susann schmunzelte vor sich hin. Nein, sie würde sich nicht von solchen Nichtigkeiten die Laune verderben lassen. Nicht heute. Das war beschlossene Sache, seit sie in der Früh voll Tatendrang aus dem Bett gesprungen war.
Während sie geduldig wartete, wanderte ihr Blick über die Straße. Es war nicht viel los um diese Zeit. Wer konnte, hatte sich angesichts der seit Tagen brütenden Hitze an die Baggerseen der Umgebung oder in ein Wochenendhaus fernab der staubigen Großstadt geflüchtet. Und Urlauber verirrten sich höchst selten in diese Gegend.
Ein Mädchen auf der gegenüberliegenden Straßenseite weckte in diesem Moment Susanns Aufmerksamkeit. Das weiße Sommerkleid des Kindes bildete einen derart krassen Gegensatz zu dem mit Graffiti verunstalteten Grau der Häuserzeile, dass es beinahe schmerzte.
Ein kurzer Blick an sich hinab genügte, um sich zu vergewissern, wie viel besser sie in diese traurige Umgebung passte. Das karierte Hemd, welches irgendwann irgendjemand in ihrem Zimmer vergessen, vielleicht sogar als Erinnerung an eine leidenschaftliche Nacht zurückgelassen hatte, trug sie lässig über dem Bauchnabel verknotet. Susann konnte sich nicht mehr entsinnen, wem das Hemd zuerst gehört hatte. Und ihre abgewetzte, über den Knien abgeschnittene Jeans erweckte gar den Eindruck, als würde sie bei einer unbedachten Bewegung zu Staub und Asche zerfallen. Verstohlen (und natürlich vergeblich) mühte sie sich, mit dem Fingernagel einen Rest grünen Etwas’ vom Stoff zu kratzen. Hatten sie nicht vor einigen Tagen Spinat gegessen? Konnte allerdings genauso gut Ölfarbe sein. Oder sonst irgendwas.
In diesem Moment warf das Mädchen ihrem Bruder – zumindest vermutete Susann, dass er der Bruder war – einen Ball zu. Der Kleine lachte vor Vergnügen laut auf, griff absichtlich daneben, sodass der Ball über das Pflaster der Fußgängerzone hopste. Das Mädchen stemmte mit vorwurfsvoller Miene die Hände in die Hüften und schüttelte schulmeisterlich den Kopf. Die langen Haare wehten ihr um das gerötete Gesicht, worauf der Junge erneut quiekte und vor Freude ungelenk auf einem Bein hüpfte. Dann hoppelte er wieselflink über die Straße dem Ball hinterher. Das Lachen auf seinem runden Gesichtchen schien mit der Sonne um die Wette zu strahlen. Er schaute sich nach seiner Schwester um, die noch immer mit der Lockenpracht kämpfte. Nach einem Blick auf ihre Uhr sagte sie etwas zu dem Jungen, der zwar eine betrübte Schnute zog, aber ohne ein Wort der Widerrede ihre Hand ergriff und einträglich mit ihr die Straße hinunterging, an deren Ende eine Kreuzung den Blick auf die breite Hauptverkehrsstraße freigab.
Teils beeindruckt, teils amüsiert hatte Susann durch ihre silberfarbene Brille die Szene beobachtet. Nachdenklich wiegte sie den Kopf hin und her. Sie konnte sich weder erinnern, ein derart liebevolles Verhältnis zu ihren Geschwistern gepflegt zu haben, noch hätte sie sagen können,
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