Night World - Retter der Nacht
kurzen Stich in ihrer Brust, ein Gefühl irgendwo zwischen süßer Freude und Schmerz.
Es lag nicht nur daran, dass er gut aussah und sie ein wenig an James Dean erinnerte. Er hatte seidiges hellbraunes Haar, ein feinsinniges, intelligentes Gesicht und graue Augen, die abwechselnd distanziert oder durchdringend blickten. James war der bestaussehende Junge der ganzen El-Camino-Highschool, aber das war es nicht, was Poppy so anzog. Es war etwas, das er von innen her ausstrahlte, etwas Geheimnisvolles, Unwiderstehliches, das irgendwie nicht greifbar war. Etwas,
das ihr Herz schneller schlagen ließ und ihre Haut zum Kribbeln brachte.
Auf Phillip hatte er eine ganz andere Wirkung. Sobald James hereinkam, verkrampfte Phillip sich, und seine Miene wurde abweisend. Die beiden konnten sich nicht ausstehen. Ihre Abneigung knisterte wie elektrische Spannung im Raum.
Dann lächelte James leicht, als ob ihn Phillips Reaktion amüsieren würde. »Hallo.«
»Hallo.« Phillip taute kein bisschen auf. Poppy hatte das ungute Gefühl, dass er sie am liebsten über die Schulter geworfen und aus der Küche getragen hätte. In James’ Nähe mutierte Phillip immer zum überbesorgten Bruder, der seine Schwester unbedingt beschützen wollte. »Wie geht es Jackie und Marylyn?«, fragte er gehässig.
James dachte einen Moment nach. »Keine Ahnung.«
»Keine Ahnung? Na ja, du machst ja immer kurz vor den Sommerferien mit deinen Freundinnen Schluss. Damit du deine Freiheit genießen kannst, stimmt’s?«
»Natürlich«, antwortete James cool und lächelte.
Phillip sah ihn mit unverhohlenem Hass an.
Poppy jedoch freute sich. Bye-bye, Jackie, mit ihren unglaublich langen Beinen, auf Nimmerwiedersehen, Marylyn, mit ihren beeindruckenden Brüsten. Es würde ein wunderbarer Sommer werden.
Viele hielten die Freundschaft zwischen Poppy und
James für platonisch. Doch das stimmte nicht. Poppy wusste schon seit Jahren, dass sie ihn heiraten wollte. Das war eines ihrer großen Ziele. Das andere bestand darin, möglichst viel von der Welt zu sehen. Sie war nur noch nicht dazu gekommen, James über ihre Pläne zu informieren. Im Moment bildete er sich immer noch ein, dass er auf Mädchen mit Modelfigur, langen Fingernägeln und hochhackigen Schuhen stand. Na ja, sie würde ihm schon noch die Augen öffnen.
»Hast du eine neue CD mitgebracht?«, fragte sie, um ihn von den unfreundlichen Blicken seines zukünftigen Schwagers abzulenken.
James wog sie in der Hand. »Ja, den Wahnsinns-Ethnotechnosound.«
»Wow!« Poppy jubelte. »Ich kann’s kaum abwarten. Komm, gehen wir in mein Zimmer und hören sie uns an.« Aber in diesem Moment kam ihre Mutter herein. Poppys Mutter glich einer Heldin aus einem Hitchcock-Film. Kühl, blond und perfekt gestylt. So wie Grace Kelly in den Fünfzigerjahren. Sie wirkte immer so tüchtig und überlegen. Poppy rannte sie fast um, als sie aus der Küche wollte.
»Oh, tut mir leid - hi, Mom.«
»Warte mal einen Moment.« Ihre Mutter hielt sie am Rücken ihres T-Shirts fest. »Guten Morgen, Phil, guten Morgen, James«, fügte sie hinzu. Phil erwiderte ihren Gruß und James nickte höflich und leicht ironisch.
»Habt ihr schon alle gefrühstückt?«, fragte sie. Als die Jungs bejahten, schaute sie ihre Tochter an. »Und was ist mit dir?« Sie musterte Poppys Gesicht.
Poppy schüttelte die Schachtel mit den Cornflakes, und ihre Mutter zuckte leicht zusammen. »Warum gießt du nicht wenigstens Milch darüber?«
»Sie schmecken mir so eben besser«, sagte Poppy fest, aber als ihre Mutter sie leicht in Richtung Kühlschrank schubste, holte sie sich einen Karton mit fettarmer Milch heraus.
»Was habt ihr denn für euren ersten freien Tag geplant?« Poppys Mutter blickte von James zu ihr.
»Ach, ich weiß nicht.« Poppy sah James an. »Vielleicht Musik hören? Oder in die Berge gehen? Wir könnten auch an den Strand fahren.«
»Was immer du willst«, antwortete James. »Schließlich haben wir den ganzen Sommer lang Zeit.«
Den ganzen Sommer lang … Der Sommer streckte sich golden, heiß und wunderbar vor Poppy hin. Er roch nach dem Chlor des Schwimmbads und nach Meersalz und fühlte sich warm an, wie Gras unter ihrem Rücken. Drei ganze Monate, dachte sie. Das ist eine Ewigkeit.
Es war seltsam, dass sie diesen Gedanken ausgerechnet in dem Moment hatte, als es passierte.
»Wir könnten uns auch die neuen Shops in der Stadt ansehen …«, begann sie, als der Schmerz sie plötzlich
so stark attackierte, dass sie
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