Nixenjagd
e ihr Gesicht allmählich die Farbe eines Radieschens annahm . »’tschuldige.« Es war ein kaum hörbares Flüstern. Alles in ih r schrie nach Flucht. Sie war im Begriff, aufzustehen und sich einen anderen Platz zu suchen, als er sagte: »Wenn du willst , kannst du mal mitkommen auf einen Hochsitz. Aber da mus s man still sein, sonst bekommt man nichts zu sehen. « Franziska schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und nickte . »Gern«, presste sie hervor . Wieder hielt die Bahn an . »Ich sag dir Bescheid.« Er stand auf . »Das ist noch nicht unsere Haltestelle«, bemerkte Franziska . »Ich muss noch was erledigen«, sagte er. »Bis dann. «
Sie sah ihm nach, wie er auf den Bahnsteig sprang, den Rucksack schulterte und federnd die Treppen hinabstieg, wo ihn das Dunkel der Unterführung verschlang. Die Bahn fuhr an. Franziska lehnte sich zurück und schloss die Augen. Wenn das Glück tatsächlich nur aus einzelnen Augenblicken bestand, wie oft zu lesen war, dann war dieser zweifellos einer davon.
2
Der Abend des heißen Sommertages war noch immer sehr warm, und obwohl die Sonne schon tief stand und die Büsche lange Schatten auf den Feldweg warfen, würde es noch mindestens bis zehn Uhr hell bleiben. Bruno jagte durch die Kornfelder, immer entlang der Treckerfurchen. Anfangs war Franziska in Panik geraten, wenn der Hund zwischen den hohen Halmen gänzlich verschwand. Inzwischen wusste sie, dass er immer wieder herausfand. Sie brauchte nur die Hundepfeife zu benutzen, die Tante Lydia ihr mitgegeben hatte, dann würde er irgendwo herausgeschossen kommen und sich an ihre Seite setzen. Ihr Onkel hatte den Hund sehr gut erzogen, sogar eine Jagdtauglichkeitsprüfung hatte Bruno abgelegt. Aber inzwischen war Onkel Herbert weggezogen. Seine Exfrau Lydia, die Schwester von Franziskas Mutter, musste nach der Trennung wieder mehr arbeiten und war froh, dass sich Franziska um den Hund kümmerte. Das tat sie an den Wochentagen jeden Nachmittag, denn sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Bruno den Tag allein verbringen musste. Dass ein Mann seine Frau verließ, konnte Franziska gerade noch verstehen, wenn auch nicht im Fall ihrer Tante Lydia. Aber seinen Hund zu verlassen? Wegen einer jüngeren Frau? Immerhin ein Gutes hatte Onkel Herberts Midlife-Crisis: Nun hatte Franziska fast so et was wie einen eigenen Hund. Schon eine Woche war seit der gemeinsamen Bahnfahrt mit Paul vergangen. Er hatte seine Einladung auf den Hochsitz nicht konkretisiert. Ihn in der Schule anzusprechen, wagte sie nicht. Doch das Warten war quälend! Warum hatte sie ihn nicht nach einem Zeitpunkt gefragt, gleich eine Verabredung getroffen? Ich sag dir Bescheid. Ganz schön arrogant, eigentlich. Jungen in ihrem Alter hatten Franziska bis jetzt nie interessiert. Ihrer Ansicht nach waren sie in ihrer geistigen und emotionalen Entwicklung ein ganzes Stück zurückgeblieben. Ältere Jungen wiederum interessierten sich nicht für Franziska, die im Geheimen den Verdacht hegte, dass es auch bei denen nicht allzu weit her war mit der mentalen Reife. Man musste sich nur die albernen Abiturienten ansehen. Nur mit ihrem Klassenkameraden Oliver, der drei Hausnummern weiter wohnte, verband sie eine Freundschaft, die noch aus Sandkastenzeiten stammte. Er war gut in Mathe und half ihr ab und zu. Davon abgesehen war auch er ein Kindskopf. Doch Paul war anders. Mit welchem Jungen konnte man sich schon über Hesse unterhalten? Zugegeben, mit den allermeisten Mädchen ihres Alters ging das auch nicht. Franziska wusste, dass sie eine Außenseiterin war. »Du bist ein Bücherwurm«, warf Katrin ihr oft vor. Katrin war hübsch, witzig, schlagfertig und beliebt. Eigenschaften, die Franziska fehlten und die sie an Katrin bewunderte. Sie selbst war meistens um eine gute Antwort verlegen, und was ihr Aussehen anging – na ja. Erst heute Morgen hatte Franziska vor dem Spiegel im Bad gestanden und versucht, sich durch fremde Augen zu betrachten: Ihr Haar war kinnlang und gerade geschnitten. Viel zu brav. Dann diese Farbe, dieses Mausbraun. Ob ihr ein Kastanienton stehen würde? Oder Dunkelbraun? Unsinn! Davon wird mein Gesicht auch nicht hübscher. Die Nase ist nun mal zu spitz, die Lippen sind zu schmal, die Augen katzenhaft schräg, anstatt groß und rund wie bei Katrin. Graugrün stand in ihrem Pass. Mausbraun, graugrün – langweilig. Und viel zu kleine Brüste. Obwohl sie beim Sport die Mädchen mit den üppigen Oberweiten bedauerte. Aber dafür wirkten die auf
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