Noch einmal leben
Regalgestelle aus: dort lagen die Urnenfächer wie Schatten in der Dunkelheit. Das Ganze ist bloße Effekthascherei, sagte er sich in Gedanken, denn ganz sicher verfügt das Institut über die nötigen Mittel, für eine bessere Beleuchtung zu sorgen, wenn es das nur wollte.
„Komm“, sagte Santoliquido. Sie liefen am Rand entlang. Schweigende Gestalten in weißen Arbeitskitteln bewegten sich über enge Laufstege auf anderen Ebenen. Roboter mit plumpen Köpfen rollten auf leisen Untersätzen von einem Deck zum nächsten, zogen hier etwas heraus und legten dort etwas hinein. Santoliquido blieb vor einem verschlossenen Urnenfach stehen und gab dem Computer eine Codenummer ein. Das Fach öffnete sich. Der Direktor griff hinein und zog eine glänzende Kupferkassette heraus. Sie war fünfzehn Zentimeter breit, zehn lang und fünf hoch.
„Hier drin“, sagte er, „ruht das Bewußtsein von Paul Kaufmann.“
Kaufmann nahm sie von ihm entgegen und betrachtete sie mit größerer Ehrfurcht, als er zugeben wollte.
„Darf ich sie öffnen?“
„Tu dir keinen Zwang an.“
„Ich weiß noch nicht recht – ah, hier.“ Er drückte auf einen vorstehenden Hebel, und der Deckel der Kassette öffnete sich. Im Innern lag eine Anzahl Drehscheiben und ein eng aufgespultes schwarzes Band, dessen Durchmesser kleiner als Kaufmanns Handfläche war.
„Was?“ sagte er. „Das ist Onkel Paul?“
„Seine Erinnerungen, seine Erfahrungen, seine Aggressionen. Seine Schwächen. Seine Ansichten über die Frauen, die er liebte und die Männer, die er haßte. Seine großen Geschäftserfolge. Seine Kinderkrankheiten. Seine Karriere, seine Ansprache zur Abschlußprüfung. Seine Verkrampfungen, seine Hochzeitsnacht. Alles ist vorhanden. Das hier wurde im letzten Dezember aufgenommen und enthält alles: von seiner frühesten Kindheit bis zum Grab.“
„Angenommen, ich würde das alles herausnehmen und über die Brüstung werfen“, sagte Kaufmann. „Die Datenscheiben würden zu Scherben, das Band wäre ruiniert. Das wäre das Ende von Onkel Paul, oder?“
„Wie kommst du denn darauf?“ fragte Santoliquido. „Seit mehr als dreißig Jahren ist dein Onkel jedes halbe Jahr hierher gekommen. Wir besitzen weit mehr Datenkassetten von ihm, als du in der Hand hältst.“
Kaufmann schluckte. „Ihr behaltet also die alten Aufnahmen nach einer Neuaufzeichnung?“
„Aber natürlich. Wir verfügen über eine umfangreiche Datenbank vom Bewußtsein deines Onkels. Du hältst lediglich die jüngste Aufzeichnung in der Hand – die vollständigste. Und falls dieser etwas zustoßen sollte, können wir die vorletzte nehmen, der dann allerdings die letzten sechs Monate fehlen. Und so weiter zurück. Natürlich benutzen wir bei Transplantationen immer die jüngsten Aufzeichnungen. Der Rest wird für den Notfall aufbewahrt, sozusagen der Vollständigkeit halber.“
„Das habe ich nicht gewußt.“
„Wir legen auch keinen Wert darauf, das publik zu machen.“
„Ihr bewahrt also um die sechzig Aufnahmen von Onkel Paul in diesem Gebäude auf! Und etliche von mir? Und …“
„Natürlich stecken nicht alle in diesem Gebäude“, sagte Santoliquido. „Wir besitzen eine ganze Menge Lagerhallen, der Dezentralisierung zuliebe. Wir müssen mit allen Eventualitäten rechnen, Mark. Dazu sind wir verpflichtet.“
Kaufmann dachte darüber nach. Es war ihm noch nie in den Sinn gekommen, daß solche Surrogataufzeichnungen vorhanden waren oder an anderen Orten zusätzliche Seelenbanken existierten. Als er länger darüber nachdachte, kam es ihm plötzlich recht logisch vor. Dabei kam ihm ein neuer Gedanke.
„Wenn es solche Duplikate gibt“, sagte er langsam, „dann ist es doch nicht auszuschließen, daß das Bewußtsein einer Person auf mehrere Empfänger gleichzeitig verteilt wird, nicht wahr? Du könntest Onkel Paul Roditis geben, Onkel Paul minus sechs Monate an jemand anderen und immer so weiter.“
„Rein technisch wäre das möglich. Aber es verstieße gegen die guten Sitten und gegen das Gesetz. Wir behalten die alten Aufnahmen aus Reservegründen. Sie wurden noch nie mißbraucht und werden es auch in Zukunft nicht.“ Santoliquido schien durch die bloße Vorstellung erschüttert. „Niemals.“
Kaufmann nickte. Die Schärfe in Santoliquidos Antwort beunruhigte ihn. Er verschloß die Kassette wieder und gab sie zurück.
„Glaubst du jetzt, daß er tot ist?“ fragte Santoliquido.
„Hm, eigentlich habe ich ja keinen Beweis, daß dieses Band
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