Nochmal tanzen - Roman
Auf welches Wunder sie hoffte. Was mit ihren Eltern sei. Er erzählte, was ihr noch nie jemand erzählt hatte. Er habe Angst, dass ihm das Bild seiner Mutter entgleite. Er habe Heimweh nach Argentinien.
In der Pizzeria setzte er sich ihr und Alice gegenüber. Alice fragte ihn, ob er im Austauschjahr Tango getanzt habe. «Dafür bin ich zu jung», sagte er. Er erzählte von seinem Gastbruder, der fußballverrückt war und ihn zu den Spielen mitnahm. Normalerweise fand Fleur Jungs, die sich für Fußball begeisterten, langweilig. Bei Pascal war es anders. Bei ihm war alles anders.
«Er ist ein Charmeur, dein Pascal», meinte Alice auf der Heimfahrt und zwinkerte ihr zu. Sonst sprachen Alice und sie nicht viel. Zu müde waren sie. Auf dem Weg von der Bahnstation zur Wohnsiedlung gingen sie schweigend nebeneinander her. Der Kies knirschte lauter unter ihren Füßen als sonst, die Luft roch grüner.
Vor ihrem Wohnblock umarmte Alice Fleur. «Danke», sagte sie. Alice drückte sie so fest an sich, dass sich ihre Brüste berührten. Als sie sich voneinander lösten, sagte sie: «Es war schön.»
Endlich ist das Ladezeichen auf dem Bildschirm verschwunden. Fleur schaut die Fotos an. Der Autounfall wirkt dramatisch. Es war eine gute Idee von Lis, einem der Beine unter dem Auto den Schuh verdreht anzuziehen. Wie wenig es für Unheil braucht.
Sie verschiebt den Computer, um die Spiegelung der Deckenlampe nicht auf dem Bildschirm zu haben, und stößt dabei an Mutters Lexikon, das zusammen mit dem Foto von Vater zu Boden fällt. Sie stellt es wieder auf. Seit ihrer SMS versuchte Vater fünf Mal, sie zu erreichen. Sie nahm nicht ab. Schließlich schrieb er: «Liebe Fleur, es tut mir leid, dass du so von Regula und mir erfahren hast. Ich wollte dir von ihr erzählen, hatte aber noch keine Gelegenheit dazu. Bitte ruf mich an, damit wir abmachen können. Ich liebe dich. Dein Papa.»
Wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie speicherte die Mitteilung, antwortete aber nicht. Soll er sich doch um sie bemühen.
Um keinen weiteren Gedanken an ihn zu verlieren, bearbeitet sie das Foto von der Operation im Dachstock. Sie hellt es auf, wählt den Ausschnitt enger. Marias Balken fällt weg. «Sorry, du musst dir ein neues Plätzchen suchen.» Mit einem roten Punkt markiert Fleur die besten Aufnahmen jeder Szene, druckt sie aus und legt sie auf dem Teppich aus. Zehn Mal Unglück im Bild, zehn Mal Glück im Text. Soll sie «Maria sei Dank» oder «Madonna ist mir beigestanden» dazuschreiben?
Ihr Blick fällt auf Alice’ Sprung aus dem Küchenfenster. Dass sie sich traute. Sie setzte sich auf den leer geräumten Sims, prüfte, ob die Matratzen richtig lagen und ließ sich die eineinhalb Meter Po voran plumpsen. Alexander habe den Atem angehalten, erzählte ihr Pascal danach. In der Pizzeria klagte Alice über Rückenschmerzen. Wenn es nur nichts Ernstes ist.
Fleur widersteht dem Impuls, in der Küche nach etwas Süßem zu suchen, und arrangiert die Fotos neu. Zuerst der Sturz aus dem Fenster, dann die Krücken, der Autounfall, die Operation, das Herz, der Finger, die Diebe, das Wehr, die Kümmernis, Alexander am Fuß des Kirschbaums liegend. Die Leiter ist vor dem Stamm schlecht sichtbar, die Baumkrone zu stark beschnitten. Kein gutes Bild. Sie legt es neben das Gruppenfoto, das sie zum Schluss mit Selbstauslöser schoss. Manu, Pascal, Alice, Lis, Alexander und sie in der Wiese, vor ihnen die Requisiten. Das ist es, das zehnte Foto. In der Legende wird sie schreiben: «Sie haben geholfen.»
Die Autorin dankt
Dem Kanton Bern für die Unterstützung im Rahmen des Mentoringprogrammes / Der Schriftstellerin Friederike Kretzen fürs Mentoring / Der Lyrikerin Elfriede Gerstl für das Gedicht «unter engeln: man schwebt einander vor», 2009 erschienen im Buch «lebenszeichnen», droschl verlag Graz / Manu Waeber fürs Lektorat / Patrik Marcet fürs Lieben, Lesen, Ermutigen und Kritisieren / Gerd Ruppel fürs Ermutigen und für die Inspiration / Alina Marti fürs Lesen und Schreiben / Doris Catana und Stephen Thomas fürs Unterrichten und Nachfragen / Susy Marcet fürs Lesen / Allen, die ihr das Schreiben möglich machen
Maja Peter
Eine Andere
Roman
Mit dem Leben der vierzigjährigen Protagonistin verhält es sich wie mit ihrem Gesicht. Vertraut ist sie nur mit einzelnen Linien, und die harmonieren nicht immer. Sie fürchtet sich vor dem, was sie herbeisehnt. Sie mag keine Erinnerungsfotos und blättert doch im Album. Sie will sich
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