Das Geschenk der Wölfe
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R euben war ein großer junger Mann, an die eins neunzig, mit braunen Locken und tiefliegenden blauen Augen. Seinen Spitznamen, «Sonnyboy», hasste er so sehr, dass er es vermied, auf eine Weise zu lächeln, die jeder «unwiderstehlich» fand. Momentan war er aber zu glücklich, um seine Gesichtszüge zu kontrollieren oder so zu tun, als sei er älter als dreiundzwanzig.
Eine steife Brise wehte vom Meer her, als er einen steilen Hügel erklomm. Neben ihm ging eine etwas ältere, ebenso exotische wie elegante Frau namens Marchent Nideck, die ihm wunderbare Dinge über das große Haus auf den Klippen erzählte. Sie war schlank, fast dünn, ihr schmales Gesicht erinnerte an die klassischen Züge einer Marmorstatue, und ihr Haar war von jenem Blond, das nie ergraute. Es war glatt zurückgekämmt und fiel ihr mit sanftem Schwung fast bis auf die Schultern. Mit ihrem langen braunen Strickkleid und den polierten braunen Stiefeln entsprach sie genau Reubens Geschmack.
Er war hergekommen, um im Auftrag des
San Francisco Observer
für einen Artikel über dieses riesige Haus zu recherchieren. Marchent Nideck wollte es verkaufen, nachdem ihr Großonkel, Felix Nideck, endlich für tot erklärt und der Nachlass geregelt worden war. Er war bereits vor zwanzig Jahren verschwunden, sein Testament aber jetzt erst gültig geworden, und danach ging das Haus an seine Nichte Marchent.
Seit Reuben angekommen war, hatten sie den bewaldeten Hügel durchstreift, ein verfallenes altes Gästehaus und die Ruine der ehemaligen Scheune besichtigt. Sie waren alten Straßen und Pfaden gefolgt, die sich teilweise in unwegsamem Gelände verloren, und hier und da waren sie plötzlich an den steil abfallenden Klippen herausgekommen, wo sie einen phantastischen Blick auf den kalten eisengrauen Pazifik hatten, um dann wieder ins sichere Unterholz mit knorrigen Eichen und üppigem Farngestrüpp einzutauchen.
Auf einen solchen Streifzug durch die Wildnis war Reuben nicht vorbereitet gewesen und folglich ganz unpassend gekleidet. Als er sich auf den Weg nach Norden gemacht hatte, trug er seine gewohnte «Uniform» – einen blauen Kammgarn-Blazer über einem dünnen Kaschmirpullover und eine graue Hose. Wenigstens hatte er noch einen Schal im Handschuhfach gefunden, den er umbinden konnte, obwohl ihm die beißende Kälte eigentlich nichts ausmachte.
Das große Haus mit den tief herabgezogenen Schieferdächern und bleiverglasten Fenstern glich einem Winterpalast. Die Mauern waren aus unbehauenem Naturstein, und zahllose Schornsteine erhoben sich über den spitzen Giebeln. An der Westseite hatte es einen ausgedehnten Wintergarten, der ganz aus Glas und weiß gestrichenem Eisen bestand. Reuben war restlos begeistert. Schon die Fotos, die er sich im Internet angesehen hatte, waren phantastisch gewesen, aber das Haus
in natura
zu sehen war einfach überwältigend.
Er selbst war in einem alten Haus aufgewachsen, in Russian Hill, einem der begehrtesten Wohnviertel von San Francisco, und auch die luxuriösen Häuser von Presidio Heights und den Vororten der Stadt kannte er von innen. Auch in Berkeley, wo er aufs College gegangen war, hatte er eindrucksvolle Gebäude kennengelernt, und das Fachwerkhaus seines verstorbenen Großvaters in Hillsborough war viele Jahre lang sein Feriendomizil gewesen. Aber keins dieser Häuser konnte es mit dem der Nidecks aufnehmen.
Allein schon seine Größe machte es zu etwas Besonderem, ganz zu schweigen von dem riesigen Grundstück, das dazugehörte. Es war wie eine eigene Welt für sich.
«Das ist nicht zu toppen», hatte er fasziniert gemurmelt, als er es zum ersten Mal sah. «Diese Schieferdächer! Und die Regenrinnen scheinen noch aus Kupfer zu sein!» Üppige Efeuranken bedeckten gut die Hälfte des Gebäudes und reichten bis an die obersten Fenster. Gleich beim ersten Blick auf das Haus hatte er gebremst und war eine ganze Weile im Wagen sitzen geblieben, um es zu bewundern. Eines Tages, dachte er, wenn er ein berühmter Schriftsteller war und ein Refugium brauchte, um dem Rummel um seine Person zu entgehen, würde er nur zu gern ein Haus wie dieses besitzen.
Er wusste, dass ein wunderbarer Nachmittag vor ihm lag.
Als er dann das verwahrloste, unbewohnbare Gästehaus gesehen hatte, war er erschrocken, aber Marchent hatte ihm versichert, das Haupthaus sei in bester Ordnung.
Er hätte ihr stundenlang zuhören können. Sie sprach mit einem Akzent, der weder britisch klang noch aus Boston
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