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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Kommissaren.
     
    Benommen richtete Apolonia sich auf. Die Regale brannten lichterloh. Große Teile der Decke waren eingestürzt, hatten die Bodenfliesen zerschlagen und überzogen alles mit Schutt und Steinen. Auch die Glasvitrinen mit den Blutbüchern lagen darunter begraben. Hinter brennenden Tischen und Stühlen entdeckte sie Tigwid. Direkt neben ihm lag Morbus; ein Regal war auf sein rechtes Bein gefallen und eine Lawine von Büchern bedeckte seinen restlichen Körper. Langsam erhob Tigwid sich. Er hustete, sein Blick schweifte über die Zerstörung - und er entdeckte Apolonia. Über Trümmer und brennende Bücher hinweg kamen sie aufeinander zu. Apolonia spürte, wie sie zu lächeln begann, und es fühlte sich so sonderbar, so unwirklich, so leicht an, als würde sie das erste Mal in ihrem Leben lächeln. Ein lautes Krachen erklang, und die beiden wandten sich um: Eine lange Regalreihe brach zusammen. Goldene und rote Funken stoben auf. Bücher flogen mit flatternden Seiten durch die Luft, und brennendes Papier tanzte bis zur Decke empor, wo es in Rauch und Asche wieder herabrieselte. Reglos beobachteten Apolonia und Tigwid das Schauspiel. Dann brachen auch die anderen Regale ein, eins nach dem anderen, und die ganze Bibliothek füllte sich
mit den gestohlenen Schatten der Geschichten, die für immer in weißes Flammenlicht aufgingen.
     
    Mit stockenden Schritten bahnte Bassar sich einen Weg durch die Trümmer. Wie hatte eine so große Explosion losgehen können? Zwar waren die Decke und alle Regale zerstört, doch das andere Ende der Bibliothek war fast unbeschadet geblieben und auch die letzten beiden Fenster hatten noch ihr Glas. Fast sah es aus, als wäre ein mächtiger Strahl der Zerstörung quer durch den Raum gegangen …
    Inmitten der Zerstörung entdeckte er einen Jungen, der friedlich zwischen den brennenden Büchern lag, fast als würde er schlafen und im Traum lächeln.
    Die Pistole, aus der die tödliche Kugel gefeuert worden war, lag neben Morbus’ rechter Hand. Er stöhnte, als die Polizisten ihn unter den Trümmern hervorzogen. Sein Bein war von einem Regal eingequetscht worden und hatte mindestens drei Brüche.
    »Sie sind wegen Mordes festgenommen«, erklärte Mebb feierlich, obwohl Morbus eher bewusstlos als wach war und nur ein leises »Nevera …« hervorbrachte.
    Plötzlich erklang ein Wimmern. In einer Ecke kauerte Nevera - sie hatte die Finger in ihre wirren Haare gesteckt und starrte die Polizisten entsetzt an. »Motten! Alle Motten! Hab - meine Kraft verloren! Motten, oh …!«
    »Frau Spiegelgold?«, fragte Bassar verdutzt.
    Nevera sprang auf und schwenkte die Arme durch die Luft. »Fliegen! Sie kann fliegen! Ich will fliegen!«
    Mit großen Augen beobachteten Bassar und Mebb, wie sie durch die Trümmer zu springen begann.
    »Das kommt definitiv in die Akte der Nocturna«, murmelte Mebb.
    Bassar warf einen Blick auf Morbus, der von mehreren Polizisten
aus der Bibliothek getragen wurde. »Vielleicht ist der Fall Nocturna hiermit beendet … Wo ist eigentlich die kleine Spiegelgold? Hat jemand Apolonia Spiegelgold gesehen? Verdammt, jetzt muss sie endlich mit der Wahrheit rausrücken!«
     
    Als die Polizei das Schloss von Caer Therin durchsuchte, waren Apolonia und Tigwid längst am Tor des Anwesens angekommen. Das erste Tageslicht des neuen Jahres berührte die winterlichen Felder, strahlend weiß und jung wie die erste Seite eines frisch gedruckten Buches. Apolonia konnte sich nicht sattsehen daran; die Herrlichkeit der Landschaft füllte sie ganz und gar aus, als wäre ihr Inneres genauso weit und riesig. Und so war es auch.
    Trude schien weniger Sinn für die Natur zu haben. Seit Apolonia sie aus ihrem Zimmer geholt und ihr gesagt hatte, sie würden jetzt nach Hause gehen, war sie wie aufgelöst, sah sich immer wieder nach den Polizeiwagen um und bedachte Apolonia mit schreckerfüllten Blicken. Tigwid hatte sie anfangs für einen Landstreicher gehalten und auch jetzt noch legte sie vorsichtshalber einen Arm um Apolonia und bedachte ihn mit misstrauischen Seitenblicken.
    Schweigend gingen sie die Straße entlang. Die Wagenspuren der letzten Nacht waren noch sichtbar, doch der Himmel versprach Schnee - bald würde alles unter einer neuen weißen Schicht verschwinden.
    Die Blicke von Apolonia und Tigwid trafen sich wie zufällig, als sie die Umgebung betrachteten. Ein merkwürdiges Gefühl kribbelte Apolonia in der Brust, das aber nicht unangenehm war; sie wandte sich rasch ab und

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