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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Schuld, dass er ein Buch gelesen hat, von dem er besser die Finger gelassen hätte. Ich gab ihm einen guten Rat. Er sollte alle Bücher verbrennen, die er je gelesen hatte. Am besten, er würde die ganze Buchhandlung verbrennen.«
    Tränen fielen Apolonia aus den Augen. »Ich dachte, du hättest eine große Vision, Jonathan. Ein nobles Ziel. Aber du bist nur ein Verbrecher.«
    »Einerlei, was du denkst«, sagte Nevera. »In einer Minute, meine Liebe, denkst du gar nichts mehr!«
    Der plötzliche Angriff riss Apolonia von den Füßen. Sie spürte, wie die Luft aus ihren Lungen wich - dann prallte sie hart mit dem Rücken auf den Boden. Sie versuchte, die Augen zu öffnen, doch jede Bewegung war schrecklich langsam, sie fühlte sich so kraftlos… Als sie endlich aufblicken konnte, war Nevera über ihr. Sie ging neben ihr in die Hocke, packte sie links und rechts an den Ohren und zog sie dicht zu sich heran. Apolonia ächzte vor Schmerz.
    »Hm.« Nevera betrachtete sie amüsiert. »Mal sehen, was sich hinter diesem trotzigen Käsegesicht verbirgt.« Dann weiteten sich ihre Augen und ihr Blick drang tief in Apolonia ein.
    Heiße und kalte Strahlen durchfuhren ihren Kopf auf der Suche nach ihren Mottengaben. Sobald Apolonia sie gegen Nevera einsetzte, würde Nevera sie entdecken und stehlen. Apolonia hatte keine Chance gegen sie; die Gaben von sieben oder mehr Motten glühten in Nevera wie eine machtvolle
Sonne. Das Einzige, was Apolonia tun konnte, war, sie abzulenken… verzweifelt stellte sie den suchenden, tastenden Fingern alles in den Weg: wahllose Erinnerungen und Gedanken, Flutwellen von Bildern und Details, die keine Bedeutung hatten. Das kleine Loch in Tigwids Jackett, wo ihn eine Kugel getroffen hat. Die kratzigen Ärmelsäume von einem Kleid. Der Apfel, den ich heute Morgen gegessen habe. Verdammt, alles Mögliche …
    Nevera durchbrach den Ansturm der Gedanken immer wieder. Lange konnte Apolonia sich nicht mehr konzentrieren … wenn ihr die Ideen ausgingen, war alles verloren!
    Und dann kam ihr wirklich eine Idee. Hastig versuchte sie, sie vor Nevera zu verbergen, sie unter den Strom ihres sichtbaren Bewusstseins zu ziehen: Sie musste Nevera nicht ablenken - sie musste sie beeinflussen … aber wie …
    Streng dich an! Benutze deine Fantasie!
    Ja - ihre Fantasie benutzen! Panisch konstruierte Apolonia ein Bild. Eine künstliche Erinnerung . Sie selbst, die in der Luft schwebt. Sie kann fliegen. Sie fliegt durch die Bibliothek!
    Apolonia spürte, wie Nevera vor der Konstruktion zurückschreckte - sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, schließlich war es doch unmöglich, dass Apolonia fliegen konnte, so mächtig war sie nicht …
    Die Hoffnung durchschoss Apolonia fast schmerzlich. Schnell, schnell musste sie sich etwas Neues ausdenken. Morbus - ja, das war gut! -, Morbus, der neben ihr in der Bibliothek sitzt und sagt: »Nevera ist eine vollkommen unbegabte Motte. Im Grunde ist sie gar keine Motte - sie hat sich alles angelesen. Sie gehört nicht wirklich zu uns Dichtern …«
    Apolonias Fantasie überschlug sich. Sie dachte sich ein Szenario nach dem anderen aus und stellte es Nevera in den Weg. Mit jedem Mal wurde sie geschickter und heimtückischer.

    Magdalena, die gar nicht tot ist - sie steht in der dunklen Eingangshalle und sieht dich an. Ihre Augen sind kalt und starr auf dich gerichtet. Sie lebt! Sie sieht alles! Und sie wird sich rächen!
    Nevera suchte nicht mehr nach Apolonias Gabe. Wie gebannt hatte sie innegehalten, um die unglaublichen Szenen zu verfolgen, die sie für Apolonias wahre Erinnerungen hielt.
    Apolonia entwarf eine ganze erlogene Welt. Verschwörer, die planten, Nevera umzubringen. Tote, die zum Leben erwachten. Bekannte, die sich plötzlich als heimliche, übermächtige Motten entpuppten… und zuletzt Nevera selbst: Nevera, die in einem weißen Raum steht und einen weißen Kittel trägt. Ihre Augen starren ins Nichts. Ihr Mund öffnet sich. Mit leerer Stimme flüstert sie: »Ich… bin keine Motte. Ich… bin… verrückt. Ich… bin… verrückt… bin… ich… verrückt … bin … ich … bin … verrückt … verrückt … verrückt!«
    Mit einem Kreischen ließ Nevera sie los und fiel zurück. Die Verbindung zwischen ihnen zerriss so abrupt, dass Apolonia nach Luft schnappte. Ein heißer Schmerz durchschoss ihre Augen - keuchend stützte sie sich auf und kroch vor Nevera zurück, die auf der Seite kauerte und mit feurigem Blick um sich starrte. Ihre Lippen

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