Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten
spülte Apolonias Energiestoß an ihr vorbei wie Wasser an einem Fels.
»Die Natur machte mich vielleicht nicht zur begabtesten Motte. Aber ich war eine fleißige Leserin. Ehrgeiz zählt immer mehr als Talent, nicht wahr? Und nun da unsere treuen Dichter von Collonta umgebracht wurden, war es ganz leicht, ihnen die Gaben im Augenblick des Todes abzuzapfen.«
Ohne Apolonia aus den Augen zu lassen, streckte Nevera
die Hand nach Tigwid aus, der auf sie zugerannt war, um sich auf sie zu werfen. Mit einem Würgen wurde er in die Luft gerissen und blieb einen Meter über dem Fußboden hängen.
»Lass ihn runter!«, schrie Apolonia. »Er erstickt!«
Sie wollte ihn zu Boden holen, aber Nevera ließ ihn nur noch höher steigen. Nach Luft schnappend, drehte er sich im Kreis wie ein Fisch am Angelhaken.
Nevera genoss Apolonias Grauen sichtlich und bemerkte mit einem Blick auf ihn: »Beeindruckend, nicht wahr? Als der alte Erasmus endlich ins Gras gebissen hat, bin auch ich kurz vorm Tod gewesen. Gott sei Dank haben die Dichter sich für Morbus und mich geopfert, ob sie wollten oder nicht. Im letzten Moment habe ich die Energien in mich aufgenommen, die die Dichter verloren haben. Trotzdem war es eine sehr strapaziöse Angelegenheit. Daher verstehst du sicher, dass ich nicht bei bester Laune bin!«
Ohne Vorwarnung griff sie an. Apolonia hob schützend die Arme, als ein heißer Luftzug auf sie zubrauste. Doch zu ihrer eigenen Überraschung verlor sie nicht die Kontrolle über ihren Körper.
Sondern ihren Geist.
Automatisch hob sie den Kopf und blickte Nevera aus weit aufgerissenen Augen an. Nevera kam lächelnd drei Schritte näher. »Heute Nacht werden wir uns die Gaben aller noch lebenden Motten aneignen. Und mit dir fange ich an. Ist das nicht ein Zufall? Wie deine Mutter wirst du in einem historischen Ereignis die Rolle der Ersten übernehmen.«
Kälte kroch Apolonia den Rücken herauf. Sie konnte ihren Blick nicht von Neveras Augen wenden. Dann drang Nevera in ihren Geist ein.
Finger, kälter als Eis, griffen in ihre Gedanken. Nein! , schrie sie. Mit einer ungeheuren Kraftanstrengung gelang es ihr, sich zu verschließen - die Finger verdampften wie Rauch.
Benommen stolperte Apolonia zurück. Alles drehte sich in ihrem Kopf. Sie hörte das Klappern von Neveras Schuhen, als sie gemächlich näher kam. »Nanu? Da ist wohl jemand ungehorsam. Los, gib mir deine Gabe, sie gefällt mir sehr gut!«
Schwer atmend stützte Apolonia sich auf die Arme. »Warst du schon immer verrückt oder… erst seit Morbus dich die Blutbücher hat lesen lassen?«
Nevera hielt verwundert inne. »Glaubst du, er würde mir schaden? Ich bin seine Herrin - sein Leben. Sein Licht.«
Apolonia warf Morbus einen Blick zu, der reglos dastand und sie mit einem angespannten Lächeln beobachtete. »Dann wurdest also du von Nevera manipuliert - war es so? Hat ein Mann mit so außergewöhnlichen Fähigkeiten wie du sich so leicht irreführen lassen?«
Morbus’ Gesicht zuckte. »Du hast sie gehört … sie ist mein Licht und Leben. Sie hat die Blutbücher erfunden. Sie hat den Sinn meiner Gabe erkannt. Ohne sie wären wir nichts.«
»Wie kannst du ihr vertrauen?«, schrie Apolonia. »Glaubst du, ihre Bosheit wird sich nicht auch gegen dich richten?!«
»Halt deinen Mund!«, rief Nevera und machte eine herrische Geste. Daraufhin stürzte Tigwid endlich zu Boden. Reglos blieb er liegen. Apolonia zwang sich, nicht hinzusehen - nicht jetzt -, jetzt musste sie sich konzentrieren …!
»Du tust mir leid, Jonathan.« Ihre eigenen Worte kamen ihr schwer und blechern vor, unförmige Steine, die sie gegen die Wälle seiner Überzeugung warf. »Bei so vielen Blutbüchern habt ihr euren Verstand verloren, ihr beide! Und nicht nur das. Auch eure Menschlichkeit.«
Morbus sah sie aus lichtlosen Augen an. Obwohl seine Mundwinkel nach oben gezogen waren, sah es nicht aus, als würde er lächeln. »Interessant, dass du davon sprichst, Apolonia, von verlorenem Verstand. Ich erinnere mich, dein Vater Alois hat ihn wohl auch irgendwo verlegt?«
»Das wart auch ihr.« Apolonia presste die Lippen zusammen, damit ihr kein Schluchzen entwich.
»Nein …« Morbus verschmälerte die Augen, als dächte er angestrengt nach. »Ich meine mich erinnern zu können, dass er schon davor ein wenig wirr im Kopf war. Wieso sonst wäre er hier eingebrochen, um ein Blutbuch zu stehlen, von dem er ausging, dass es die Seele seiner verstorbenen Frau enthielt? Es ist nicht meine
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