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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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ließ zu, dass Trude sie ein Stück weiter von Tigwid wegzog.
    Er vergrub die Hände in den Hosentaschen und atmete tief durch. Er war froh, am Leben zu sein. Merkwürdig, dass ihm
das immer erst dann bewusst wurde, wenn er von blauen Flecken übersät war.
    Bald holte sie ein Bauernkarren ein, der Waren in die Stadt brachte. Apolonia, Tigwid und Trude durften hinten aufsitzen und wurden das letzte Stück bis zur Stadt mitgenommen. Nachdenklich beobachtete Apolonia die Schlange schwarzer Polizeiwagen, die in der Ferne von Caer Therin herkamen.
    »Was ist eigentlich aus deiner Prophezeiung geworden?«, fragte sie Tigwid leise, ohne ihn anzusehen. Trude hatte sie nicht gehört oder tat zumindest so.
    Tigwid beobachtete wie Apolonia die schwarzen Automobile. Von hier aus wirkten sie wie eine Karawane von kleinen Käfern. »Ich weiß immer noch nicht, was der Sinn unserer Gaben ist, wenn du das meinst. Aber … ich glaube, das war gar nicht meine sehnlichste Frage. Ich wollte nicht wissen, wer die Motten sind, sondern wer ich bin.« Er sah sie an. »Wenn das, was einen Menschen ausmacht, Gedanken, Erinnerungen, Träume und Gefühle sind, dann hat mich das, was ich fühle, zu dem gemacht, der ich bin. Ich bin ein Junge … der dich liebt.«
    Sie konnte sich nicht bewegen. Mühsam öffnete sie den Mund, um etwas zu sagen, aber sie wusste nicht, was.
    Tigwid lachte leise. »Schon in Ordnung, du musst nichts sagen. Ich weiß ja, was für ein Eisblock du bist. Abgesehen davon ist nicht jeder so wortgewandt wie ich …«
    Sie grinste ihn an. Dann nahm sie seine Hand, und ihre Finger umschlangen sich, ganz heimlich, damit Trude nichts bemerkte. So fuhren sie voran und blickten zurück, beide ihren eigenen Gedanken nachhängend, die im Grunde dieselben waren.

Ein Buch

    I n den nächsten Tagen freuten die Zeitungen sich über fantastische Schlagzeilen. Die Entdeckung des Untergrunds sorgte gar für internationales Aufsehen. Bald schon erschienen die ersten Kurzgeschichten und Romane, die sich den Untergrund zum Schauplatz ihrer Erzählungen wählten, und ein Reiseführer bot Abenteuerlustigen sogar kurzweilig eine illegale Tour durch die Katakomben an.
    Im allgemeinen Aufruhr ging die Nachricht von Jonathan Morbus’ Festnahme beinahe unter. Nur eine kleine Pressemitteilung verkündete, dass der bekannte Schriftsteller einen Jungen erschossen und anschließend Feuer in seiner Bibliothek gelegt habe, offenbar in der Absicht, sich das Leben zu nehmen. Später wurde ihm auch der Mord an seinen ehemaligen Gefährten angelastet, deren Leichen man im Untergrund fand - obwohl die Todesursache nie ganz festgestellt werden konnte, ließen Morbus’ abfällige Bemerkungen über ihr Ableben darauf schließen, dass er zumindest daran beteiligt gewesen war. Gerüchten zufolge hatte er sich keinen Anwalt genommen, sondern zu seiner Verteidigung lediglich gemurmelt, dass das Leben selbst wertlos sei - erst, was man mit dem Leben anfinge, bestimme seinen Wert. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.

    Unter all den gefassten Verbrechern aus dem Untergrund bekannte sich kein einziger zum Treuen Bund. Und Staatsanwalt Elias Spiegelgold, der wahrscheinlich trotzdem Terroristen unter ihnen gefunden hätte, war mit anderen Dingen beschäftigt, denn seine Frau hatte vor Kurzem den Verstand verloren.
    Für Außenstehende mochte es so wirken, als sei das Haus Spiegelgold das traurigste der ganzen Stadt. Ein frostiger Anwalt, seine verrückte Frau, sein verrückter Bruder und seine halb verwaiste Nichte - so stellte man sich nicht unbedingt die glückliche Familie vor, die abends um den Kamin saß und Rommé spielte. Auch die Bediensteten des Hauses bestätigten, dass es eine wahre Hölle sei, sich um die beiden angeknacksten Herrschaften Alois und Nevera zu kümmern.
    Aber Trude wusste, dass die Spiegelgolds nicht in Elend versanken. Sie verstand es zwar nicht, doch sie war dem lieben Gott sehr dankbar, dass der Unfall ihrer Tante und der Verlust ihres Freundes Morbus Apolonia nicht vollends bekümmerten, im Gegenteil. Als Trude pünktlich mit ihrem Nachmittagstee das Zimmer betrat, saß Apolonia mit strahlenden Augen und leuchtenden Wangen an ihrem Schreibtisch.
    Trude stellte Tee, Milch und Honig vor sie hin und lächelte glücklich über ihren gut gelaunten Schützling. »Na? Womit sind Sie denn beschäftigt?«
    »Oh, ich lese gerade ein sehr inspirierendes Buch.«
    Aus einem anderen Teil des Hauses drang klirrendes Gelächter. Apolonia und Trude

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