Nörgeln!: Des Deutschen größte Lust (German Edition)
verprügeln?‹ – genau der guckte mich jetzt nur mit großen Augen an. Irgendwann wurde mir das zu blöd. Ich konnte es nicht mit den Typen aufnehmen, hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte, um die Situation zu deeskalieren, aber mich herzhaft beschweren – wie das geht, wusste ich. Ich blieb mitten im Laufen so abrupt stehen, dass der Kerl, der hinter mir ging, direkt in mich reinlatschte. Er trat mir auf die Sandale, und ich drehte mich um und zeterte: ›Kannst du nicht aufpassen, du Depp? Was soll das, mir auf den Schuh zu treten? Also wirklich, unerhört, mein guter Schuh!‹ Ich machte einen Riesenaufstand, ganz laut, es hallte durch die Fußgängerzone. Ich kanzelte ihn völlig ab, aber nur wegen der Schuhe, als ob wir in einer Schlange bei Aldi stünden, und er war so aus dem Konzept gebracht, dass er sich wortreich entschuldigte und sich mit seinem Freund in die nächste Nebenstraße verdrückte.«
Es gibt Menschen da draußen, die sind Nörgeleien in Menschengestalt.
Sie nörgeln nicht um des Nörgelns willen. Sie sind raffinierter. Sie wissen, welche Schuhe von welchen Kindern in welchen Ländern genäht werden; was die Bezeichnungen für die Zusatzstoffe in Nahrungsmitteln bedeuten; welche Indianerstämme in Brasilien wie viel weniger Fisch fangen, weil Sie Alufolie gekauft haben. Sie sind nett, sie sind freundlich, sie sind höflich, aber sie geben Ihnen die Hand und es friert Sie; sie lächeln und Sie fragen sich, was Sie im Leben falsch machen; sie sagen Ihnen, »das macht nichts, sei einfach du selbst«, und Sie wollen von der nächsten Brücke springen.
»Ein Alt-68er-Kollege von mir hat kürzlich eine Iranerin geheiratet«, berichtete Käthe C., Zeitungsredakteurin aus Hamburg, »und seitdem sagt er, er würde nie einen Fuß auf israelischen Boden setzen. In den Iran zu fahren, damit hat er allerdings keine Probleme. Als es mal im Sommer richtig heiß war, hatten wir in der Redaktion eine Evian-Sprühflasche geschenkt bekommen, mit der wir uns zur Erfrischung angesprüht haben. Eines Tages kam er rein, sah das und sagte nur nebenbei: ›Und in Palästina verdursten die Kinder.‹«
Genau wie ein schmächtiger Junge, der kein Mädchen abkriegt, es zu seinem Lebensziel macht, irgendwann ein waschechter Intellektueller zu sein, der am laufenden Band Texte produziert, die kein Mensch versteht, um den Rest der Welt intellektuell zu überflügeln, genauso sind diese Menschen von dem Ehrgeiz befeuert, dem Rest der Welt moralisch überlegen zu sein.
Ich wurde als Mormone erzogen. Mormonen erkennen sehr viele göttliche Gebote an: Nicht nur die Zehn Gebote, sondern auch solche wie »Du sollst keine Drogen zu dir nehmen«. Das schließt nicht nur jede Art von Alkohol, sondern auch Kaffee aus. Da kommt irgendwann die Frage auf: Wenn Gott nicht will, dass man Kaffee trinkt, weil Koffein eine Droge ist, was sagt er zu Coca-Cola? Das enthält auch Koffein. Allerdings hat Gott sich nie ausdrücklich zu Cola geäußert, also heißt es offiziell: Von Gott aus gäbe es kein Cola-Verbot, jeder solle das für sich entscheiden. Seitdem gibt es zwei Fraktionen in der Kirche: Diejenigen, die Cola trinken und diejenigen, die keine Cola trinken. Manchmal, in schwachen Stunden, lassen diejenigen, die keine Cola trinken, gelegentlich fallen, dass sie sich einem »höheren Gesetz« verpflichtet fühlen, das Gott zwar nie erlassen hat, das aber irgendwie trotzdem existiert.
Diese Menschen sind Nörgeleien in Menschengestalt. Auch Veganer, militante Tierschützer und Zen-Buddhisten sind Nörgeleien in Menschengestalt. Das sage ich frei von jedem Neid.
Nörgeln macht Stimmung. Ach, wie oft habe ich selbst den Fehler gemacht, auf einer Dinner-Party mit redegewandter Gesellschaft in Jeans, Rollkragenpullis und sehr bunten Brillengestellen bei der dritten Flasche importierten italienischen Rotweins, gerade dann, wenn die Stimmung auf dem Höhepunkt war, zu sagen: »Moment mal! Was heißt hier Volksverdummung? Die Deutschen verdummen, nur weil sie Dieter Bohlen gucken? Die Statistik zeigt doch, dass der durchschnittliche Intelligenzquotient in der gesamten westlichen Welt kontinuierlich steigt.«
Da war die Stimmung hin, und sie kam auch nie wieder. Und auch ich wurde nie wieder eingeladen.
Nörgeln schafft Glaubwürdigkeit.
Ich wurde einmal gebeten, vor einer Gruppe mittelständischer Unternehmer einen Vortrag über Optimismus zu halten. Die Unternehmer machten gerade harte Zeiten durch, und wir Amerikaner sind von
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