Nooteboom, Cees
interessiert sich nicht besonders für Tanz, sie sich vermutlich nicht für den ausführlichen Bericht des Botschafters und ehemaligen Außenministers Chateaubriand an sein Ministerium über einen potentiellen europäischen Konflikt zwischen der Türkei, Österreich, Rußland, Preußen und England sowie über die Rolle, die Frankreich dabei spielen könnte. Der Mann in Spanien liest das nicht so sehr des politischen und geschichtlichen Inhalts wegen, sondern wegen des lapidaren, prachtvollen Französisch, in dem die Verhältnisse in Europa wie ein Schachspiel analysiert werden. Die Frau in Dublin hat bis tief in die Nacht an den 782 Seiten der »glänzend geschriebenen« Biographie von Julie Kavanagh gelesen. Beide sind an einem bestimmten Punkt und in einem bestimmten Augenblick in die unendliche Reihe der Erscheinungen eingedrungen, in denen sich das Leben auf der Erde manifestiert, und tauschen sich darüber aus. Das ist nichts Besonderes, und es ist besonders.
Poseidon VI
V ielleicht mein kürzester Brief. Legenden der Welt, die schicke ich dir. Legende, das, was gelesen werden muß. Quod legendum est. Vielleicht. Schlaglichter, Geschichten, Historien, Anekdoten auf der Suche nach der Aureole der Sage. Parvenüs aus der Morgenzeitung mit der Sehnsucht nach Dauer, auf der Suche nach Marmor und Pergament. Jeder Tag ein Krieg um Troja, noch von keinem Dichter geläutert, jeder Tag ein König ohne Zahl, ein Feldherr mit einer Armee aus nur einem Soldaten, anonyme Leben mit dem Ruhm eines einzigen Tages, Leben, die ich dir darbringe, weil ich der einzige bin, der dir schreibt. Ich weiß, daß du alles bereits weißt, allerdings stets in der Sprache der Götter. So wirst du nichts begreifen. Hast du je etwas von den Menschen verstanden? Oder macht unsere Sterblichkeit uns unhörbar? Während ich dir schreibe, lausche ich der Musik eines Hundertjährigen. Mosaik. Dialoge. Verzauberte Präludien. Scrivo in vento , ich schreibe in den Wind. Näher können wir der Unsterblichkeit nicht kommen. Das ist ein Geschmack, den ihr nicht kennt. Der Schmerz der Zeit, unser größter Reichtum. Rost, Fäulnis, Schimmel, der zu Musik wird, das ist etwas anderes als euer ewiger Nektar. Die letzte Zahl der Tage, ein Geschenk, das uns niemand nimmt.
Kindermord
I ch kenne den Ort, wo es geschehen ist, eine kleine Stadt an einem großen See, an dem drei Länder aufeinandertreffen. Zu dieser Jahreszeit sind alle drei verschneit, der Ort liegt in einem weiten Rund aus Bergen, manchmal muß die Natur die gleichgültige Kulisse eines Dramas abgeben, in dem Menschen vernichtet werden. Das gilt auch für den Himmel, der an jenem Tag von einem ascheartigen Grauschwarz war, dunkler noch in der Stunde, in der die Mutter des ermordeten Kindes zu ihrer Arbeit in einem Restaurant geht. Sie läßt ihre beiden Söhne in der Obhut eines jungen Mannes zurück, sie sind drei und sechs Jahre alt. Das jüngere Kind heißt Cain, das andere hat in der Geschichte keinen Namen, und Cain ist kein Täter, sondern das Opfer. Sein namenloser Bruder ist dabei, als Cain zu Tode geprügelt wird. Wer nennt sein Kind Cain? Das ist nur denkbar, wenn ein Name nicht mehr bedeutet, was er einst bedeutete, wenn das Böse, das an diesem Namen klebte, als Bedeutung aus der Zeit gefallen ist. Und das Böse selbst? Es ist immer und überall zugegen, aber kann es sein, daß es in dieser Zeit einen anderen Klang hat?
Bei Homer war Wut mit Ehrgefühl verbunden, Achill ist in seiner Würde und damit in seinem Ehrgefühl gekränkt, die Ilias beginnt mit den Folgen seines schrecklichen Zorns, ein Wort, das sich allmählich aus meiner Sprache schleicht. Es hat immer etwas zu bedeuten, wenn Wörter verschwinden. Mit welcher Art Zorn haben wir es bei Cains Mörder zu tun? Kann der Mörder sich auf den im Laufe der Zeit immer stärker werdenden Glanz eines Mythos berufen? Wird seine Tat je etwas anderes sein als verachtenswerterDreck, gut für einen Schrei in Schwarz und Rot auf der ersten Seite einer Morgenzeitung?
Augustinus erzählt in seinen Bekenntnissen , wie er sich im Kolosseum die blutigen Gladiatorenkämpfe und die verstümmelten Leichen ansah, unsere Augen ziehen uns, sagt er, zum Anblick bösartiger Gewalt. Besaß das Böse im griechischen Altertum ein Alibi durch den Mythos? Kronos, der seine Kinder frißt, Atreus, der Thyestes' Söhne ermordet und kocht, Thyestes, der sie unwissentlich verspeist. Verleiht die Transzendenz dem Bösen eine andere Dimension, müssen in
Weitere Kostenlose Bücher