Nooteboom, Cees
bei Circe nicht nach Hause zurückgekehrt? Und ja, natürlich war der Gedanke, Dante habe die Odyssee nicht (zu Ende) gelesen, ein Scherz. Kaum hielt einer meiner Freunde meinen Text in der Hand, da bekam ich schon zu hören, im Mittelalter sei ausgiebig darüber spekuliert worden, daß Odysseus nach seiner Rückkehr erneut aufgebrochen sei; diese Spekulationen, so wurde mir erzählt, seien anläßlich eines Briefes von Seneca an Lucilius entstanden, ein Brief, den ich nicht habe finden können. Ein anderer Freund schickte mich zu der Passage in der Odyssee zurück, in der Teiresias Odysseus rät, sofort nach seiner Rückkehr wieder aufzubrechen, und zwar so weit ins Landesinnere, bis niemand mehr wisse, wozu das Ruder, das er auf diese Reise mitgenommen habe, eigentlich diene, doch ins Landesinnere aufzubrechen ist keine Seereise und gewiß keine auf die Südhalbkugel. Für Plinius wage ich daher die Hand auch nicht mehr ins Feuer zu legen, soviel er auch über Odysseus spricht. Statt dessen stieß ich im 53. Brief Senecas an Lucilius auf die Erwähnung, daß Odysseus ständig seekrank war, was an sich ja schon sehr ungewöhnlich für einen ewigen Seefahrer ist, aber wahrscheinlich war diese Anmerkung im Grunde dazu gedacht, Senecas eigener Seekrankheit während einer Reise nach Neapel ein wenig literarischen Glanz zu verleihen. Ein anderer Hinweis lautete, es gebe bei Hans Blumenberg in Die Legitimität der Neuzeit eine Passage, der zufolge Odysseus sich nach seiner Rückkehr nach Ithaka erneut auf eine Reise begeben habe. Bei Dante selbst wird das offenbar nicht explizit gesagt, so genau ich den Text auch studiere, und auch bei Blumenberg findet sich kein wörtlicher Hinweis darauf, allerdings eine umschreibende Erwähnung. »Hier begegnet nicht der homerische Sagenheld, der die Gefahr der Sirenen besteht, sondern der von Dante aus der Ruhelosigkeit seiner Weltneugierde konsequent weiterentwickelte und frei erfundene Odysseus, der nicht nach Ithaka heimkehrt [Kursivierung von mir, CN ], sondern das letzte Abenteuer der Überschreitung der Grenze der bekannten Welt unternimmt, die Säulen des Herkules durchfährt und nach fünfmonatiger Fahrt über den Ozean im Anblick eines geheimnisvollen Berges Schiffbruch erleidet. Vergil und Dante treffen den antiken Helden im achten Höllenkreis unter den irrlichternden Flammenzungen in der Senke der Betrüger an und erfahren von ihm die Geschichte seiner letzten Fahrt.« Pikant dabei ist, daß er hier als Strafe für die Sünde der curiositas ertrunken ist – Thema des Buches von Blumenberg –, in der Hölle jedoch als Betrüger wegen seiner List mit dem Trojanischen Pferd bestraft wird.
Wie dem auch sei, mir hat die Beschäftigung damit die Lektüre des Buches von Blumenberg und ein paar schöne Briefe von Freunden beschert sowie die Feststellung, daß es nicht der heidnische Gott Poseidon war, durch dessen rachsüchtiges Wirken Odysseus unterging, sondern der Gott der Christen, der seinem maritimen Kollegen hier ein wenig zur Hand ging.
Dante Alighieri, Divina Commedia . Met een nederlandsche vertaling von Frederica Bremer, H. D. Tjeenk Willink & Zoon N. V., Haarlem 1941
Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie . Band III , Dritter Teil, »Paradiso – Paradies«, übersetzt und kommentiert von Hermann Gmelin, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1988
Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit . Dritter Teil: »Der Prozeß der theoretischen Neugierde«, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1996
Poseidon XXII
Abb. 46: Tempel von Segesta
Taucher fanden die Statue 1926 vor der Küste bei Artemision an Bord eines im 1. Jahrhundert v. Chr. gesunkenen Schiffes.
Homer, Odyssee , Buch I
Abb. 45: Poseidon vom Kap Artemision, Nordeuböa,
ca. 460 v. Chr., 2,09 Meter
Kollegen
Abb. 47: Stauroteuthis syrtensis
Die Fakten stammen aus dem erstaunlichen Buch von Claire Nouvian, The Deep. The Extraordinary Creatures of the Abyss . The University of Chicago Press, Chicago 2007.
Stein
Abb. 48
Folgende Bücher waren für Briefe an Poseidon von Bedeutung:
Caroline Alexander, The War That Killed Achilles . Faber & Faber, London 2010
Klaus Held, Treffpunkt Platon . Reclam, Stuttgart 1990
Samuel IJ seling, Apollo, Dionysos, Aphrodite en de anderen. Boom, Amsterdam 1994
Michael Jacobs, The Andes . Granta Books, London 2010
Alberto Manguel, Homer's The Iliad and The Odyssey. Atlantic Books, London 2007
Jean Seznec, Das Fortleben der antiken Götter. Wilhelm Fink Verlag, München
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