Nooteboom, Cees
Für Siegfried Unseld, der für mich
so viel verändert hat
The death of one god is the death of all.
Wallace Stevens
W ie fängt etwas an? 2008, ein Februartag in München, ich habe am Marienplatz ein Buch von Sándor Márai gekauft, keinen Roman, sondern kurze Texte. Es heißt Die vier Jahreszeiten und macht einen etwas traurigen Eindruck, ein geknickter Stengel, eine große herabhängende Blüte, die Blätter noch dicht geschlossen, aber doch schon leicht verwelkt. Vor Jahren, als noch keiner von Márai sprach, gab Klaus Bittner in Köln mir dessen letztes Tagebuch, bittere, sparsame Seiten, Notizen aus den Jahren, die seinem Selbstmord im Alter von achtundachtzig vorausgingen. Exil in San Diego. Warum um Himmels willen San Diego? Ich kenne die Stadt, was verschlägt einen ungarischen Kosmopoliten am Ende eines Lebens dorthin, in dem das letzte Geräusch ein Revolverschuß ist? Seine Frau, mit der er ein Leben lang gereist war, war krank geworden. Er besucht sie in ihrem Pflegeheim, sie stirbt, ihre Asche wird auf dem Ozean verstreut. Er lebt allein weiter, immer mühsamer, liest Aristoteles, das Tagebuch wird fragmentarisch, es zeugt vom schmerzlichen Erfahren des Alltags. Dann kommt der Tod, seinen großen postumen Erfolg wird er nicht mehr erleben. Meine ungarischen Freunde wundern sich über die Begeisterung, die seine Romane auslösen. Sie schätzen seine Tagebücher und Reisebeschreibungen mehr. Márai war eine lichte Präsenz in einem langen, düsteren Jahrhundert des Faschismus und des Kommunismus, einem Jahrhundert sich ständig verschiebender Grenzen. Ich gehe mit meinem neuen Buch zum Viktualienmarkt und suche einen Platz zum Lesen. Die Menschen sitzen im Freien. Ich sehe Tische vor einem Fischrestaurant und finde einen freien Stuhl. Ich bestelle ein Glas Champagner, um diesenersten Frühlingstag zu feiern, und beginne mit der Lektüre. Das Buch ist 1938 erschienen, doch was ich in der Hand halte, ist das Werk eines Zeitgenossen, eines Menschen, der sein Leben mit Beobachten und Lesen, Reisen und Schreiben verbringt. Ich habe mich einfach irgendwo hingesetzt, sehe jetzt aber auf der Serviette, die ich bekomme, den Namen Poseidon in Blau, der Farbe des Meeres, an dem ich im Sommer lebe. Das muß ein Zeichen sein, jemand will mir etwas sagen, und ich habe gelernt, solchen Zeichen zu gehorchen. Darauf abgebildet ist der Gott mit seinem Dreizack, und obgleich ich mitten in einem Buch bin, beschließe ich, ihm, sobald ich mit diesem Buch fertig bin, Briefe zu schreiben, kleine Wortsammlungen, die von meinem Leben berichten.
Aus dem deutschen Winter wurde ein spanischer Sommer, mein Buch ist abgeschlossen, und in der danach wie immer entstehenden Leere erinnere ich mich an jenen sonnigen Wintertag vor einem halben Jahr. In drei Tagen beginnt mein sechsundsiebzigstes Lebensjahr. Einen Tag danach der August, der Monat des Kaisers. Ich habe noch nie an einen Gott geschrieben. Es wird Abend auf der Insel, auf der ich Sommer lebe, das Meer ist nahe, das Meer des Poseidon, die Felsen, bei denen ich immer schwimme. Ich blicke auf die weite, leicht wogende Fläche, die Bewegung im letzten Aufglänzen des Sonnenlichts. Mit Ausnahme des Wassers an den Felsen ist kein Laut zu hören. Ich muß einfach anfangen.
Poseidon I
A uf einem Relief aus dem fünften Jahrhundert vor jenem Christus, der dich verdrängt hat, den wir jedoch dazu benutzen, um die unendliche Zeit in zwei Teile zu teilen, stehen die zwölf olympischen Götter in einer langen Reihe. Sie haben ihre Attribute bei sich, doch wohin sie gehen, ist nicht erkennbar. Apollon, Artemis, Zeus, Athene. Dann kommst du. Du bist der erste, der sich umsieht, aber die noch so junge Hera hinter dir hat die Augen geschlossen und erwidert deinen Blick nicht. Wohin hast du geschaut? In der Rechten hältst du locker den Dreizack, diese merkwürdige Waffe, an der wir dich immer erkennen. Du benutztest sie zum Fischen, alle Fische gehörten dir. Ihr steht quer, assyrisch, babylonisch seht ihr aus, als könnten eure Körper sich noch nicht vom Stein lösen. Das war, als wir uns noch nicht von euch lösen konnten. Warum habe ich dich gewählt? Weil ich einen Teil des Jahres am Meer lebe? Weil ich, bevor ich zu Beginn des Herbstes in den Norden fahre, immer an derselben Stelle von den Felsen aus schwimmen gehe, auch wenn es regnet oder stürmt? Ich tue das, um zu fragen, ob ich im nächsten Jahr wiederkommen darf, und wen sollte ich fragen, wenn nicht dich? Ich habe schon
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