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Nooteboom, Cees

Nooteboom, Cees

Titel: Nooteboom, Cees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Briefe an Poseidon: Essays
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einer entzauberten Zeit Hexameter, Dichter, Götter und Könige aufgeboten werden, um die Bildzeitung zu übertrumpfen?
    Der Ort, an dem es sich zugetragen hat, lag gestern zwischen dem See und den Bergen, als wäre nichts geschehen. Ich ging durch den am Wasser gelegenen Park in einem stillen, späten Licht. Der See, glatt unter einem leichten Nebel, ein kleines Boot mit einem Fischer, in der Ferne die Lichter des anderen Landes.
    Was mich beschäftigte, war die Gleichzeitigkeit. Der Mann, der ein Kind totschlägt, die Szene, die das andere Kind nie mehr wird vergessen können, die Mutter, die in diesem Moment noch nichts weiß. Was für ein Augenblick ist das? Nicht die Stimme des Unglücksboten in Epidaurus, nicht das Schreien der Mutter inmitten der Stille der Zuschauer, nicht die Worte der Trauer des Chors, die das Geschehene zu den abwesenden Göttern tragen, keine Reinigung, keine Katharsis, nur der Gallegeschmack der Auflagezahlen, die Flucht zu den restlichen Nachrichten.

Bücher
    D ie Situation ist unklar. Ein kleiner Tisch in strömendem Wasser. Wenn seine Beine von normaler Länge sind, kann das Wasser nicht tief sein. Ein breiter Bach oder eine überflutete Stelle. An den kleinen Wellen und Wirbeln sieht man, daß es schnell fließt. Hinter dem Tisch so etwas wie ein Ufer, dann ein dunkler Hintergrund, eine Felswand oder ein bewachsener Hang. Der Tisch ist aus Metall, Platte und Beine sind aus dem gleichen glänzenden Material, modern, alles leicht erkennbar. Er gehört nur nicht ins Wasser, und das schon gar nicht, weil Bücher auf ihm liegen. Menschen sind nirgends zu sehen, ich bin hier der einzige.
    Was für Bücher es sind, kann ich nicht sagen, sie liegen geschlossen da, nur der untere Schnitt ist sichtbar. Keine Rücken, keine Buchstaben. Sie sind nicht neu, die Bücher. Sie sind übereinandergestapelt, aber dennoch auch kreuz und quer. Wenn sie lange so liegenbleiben, werden sie feucht. Wem gehören sie? Wer hat sie dort gelassen?
    Es könnten Registerbände sein, aber auch Anthologien, Lehrbücher, Abhandlungen, Meisterwerke. Weil sie durcheinanderliegen, kann ich sie nicht richtig zählen, es müssen ungefähr dreißig sein. Wenn ich lange schaue, wird es unbehaglich. Bücher wollen etwas von Menschen, das wollen sie immer, auch wenn sie geschlossen sind. Ich weiß, daß die Bücher dort im Bach Titel haben, ich weiß, daß die Seiten mit Millionen von Zeichen bedeckt sind, die ich lesen kann, aber ich komme nicht dran. Es sind dicke Bücher, unendlich viele Worte müssen darin stehen, die etwas erzählen oder darlegen wollen, die die Gedanken derjenigen ausdrücken, die sie geschrieben haben. Außer dem strömenden Wasser gibt es zunächst kein eindeutiges Geräusch, dann aber höre ich unter dem leisen Rauschen ein langsam drängender werdendes wütendes Murmeln, als sänge ein Chor mit zusammengebissenen Zähnen, ein atonales, bösartiges Summen, das keine Bedeutung preisgibt, ein erstickendes Lamento aus Druckerschwärze und Papier, das Geräusch, das Bücher machen, wenn sie wissen, sie werden verbrannt oder ertränkt, die Trauer um das, was nie mehr gelesen wird.

Poseidon VII
    I n Lindau, einer kleinen Stadt am See, gegenüber der Stadt des Kindermords, von dem ich dir erzählte, steht ein Standbild von dir, ich habe es bereits erwähnt. Ich weiß nicht, ob man es da aufgestellt hat, weil der See dort so tief und groß ist, daß man ihn für ein Meer halten könnte, oder ob du auch über Süßwasser regierst, wer vermag das schon zu sagen. Du stehst mitten auf dem Markt, das würdest du wohl erkennen. Fische aus diesem See, Käse aus den Bergen, Früchte, harte, bäuerliche Brote, in dieser Hinsicht hat sich nichts verändert seit den Tagen, als man noch zu dir betete. Jung bist du da, als Statue, schlank, man sieht, daß du gelenkig bist, obgleich du schon so unendlich lange lebst und immer in derselben Haltung stehst, halb auf den Dreizack gestützt, den du einst von deinem Bruder Zeus bekamst, damit du dich gegen deinen Vater zur Wehr setzen konntest. Du siehst, diese Dinge sind uns noch immer bekannt, auch das ist eine Form der Unsterblichkeit. Von uns weiß später niemand mehr etwas. Aber ich wüßte gern, ob du dich ebenfalls an all das erinnerst? Wie dein Vater aus Angst, einer von euch würde ihn umbringen, euch alle einfach verschlungen hat. Dazu habe ich mal ein Gemälde gesehen, dein Vater ist darauf wirklich ein Ungeheuer, er hält einen von euch in beiden Händen, als

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