Norderney-Bunker
in Aurich: Besser hätte es für die Geschäftsleute nicht laufen können. Nicht zu warm und nicht zu kalt, kein Regen, aber auch kaum Sonne. Dieser Juni-Tag erwies sich aus ökonomisch-meteorologischer Sicht als Volltreffer. Ja, der Wettergott schien – zumindest für einen Tag – den Vorsitz im Kaufmännischen Verein übernommen zu haben. Auf der kleinen Bank neben dem vollgestopften Abfalleimer zwischen dem Friseurgeschäft Raap und der Parfümeriefiliale Douglas saß ein Mann mit traurigen Augen. Er sah aus wie Anfang oder Mitte vierzig und war von leicht untersetzter Statur. Er trug schulterlange glatte schwarze Haare und ein blaues Stirnband mit gelben Karos. Seine Nase, die in der Mitte einen kleinen Höcker aufwies, dominierte das Gesicht. Die Haut wies eine gesunde, leicht bräunliche Tönung auf, Hals und Nacken gingen kraftvoll in Brust und Rücken über. In der Hand hielt er eine Gitarre, die er virtuos beherrschte. Sein Name: Paul-Karl May – eine Tatsache, die selbst Menschen, denen logisches Denken nicht ansatzweise in die Wiege gelegt wurde, darauf schließen ließ, dass er einen wirklich absolut schlüssigen Kosenamen trug: Winnetou. Aus strategischen Gründen hatte sich Winnetou aufs Pflaster gesetzt. So wirkte er noch ein wenig ärmer, was aber günstig fürs Geschäft war.
„Unterwürfigkeit ist in meinem Job das A und O“, pflegte er am Abend immer zu sagen, wenn er mit seinen Kumpels hinten am Kanal sein Feierabendbier trank. „Das ist wie in der Firma. Am besten, du nickst alles ab, bleibst immer schön leise und schließt deine eigene Meinung in den Spind; selbst wenn du zu hundert Prozent im Recht bist.“
Dann hob er immer die Arme, so, als wolle er ein breit aufgestelltes Orchester dirigieren und rief aus voller Brust: „Also Bleichgesichter, auch für Straßenmusikanten und Bettler gilt: Wes’ Brot ich ess’, des’ Lied ich sing’. Ho, ich habe gesprochen. Prosit allerseits!“
Bereits nach einer guten Stunde hatte es in Winnetous Gitarrenkasten ordentlich geklimpert, weshalb er während einer kurzen Pause – auch aus strategischen Gründen – eine Handvoll Geldmünzen herausnahm und in die Jackentasche steckte. Auch diesmal war wieder ein Fünf-Euro-Schein dabei; deutliches Zeichen dafür, dass die Leute seine Musik wirklich mochten. Denn tatsächlich: Niemals wäre einer der Geschäftsleute auf die Idee gekommen, ihn von seinem Lieblingsplatz zu verjagen. Immerzu scharte er eine Menge Leute um sich, die ihm aufmerksam zuhörten. Und immer, wenn er Balladen von Leonhard Cohen oder James Blunt sang, wurde es um ihn herum mucksmäuschenstill. Selbst der Obstverkäufer auf dem Wochenmarkt gleich um die Ecke stellte während dieser Zeit auf stumm und setzte mit seinem liebevoll-raubeinigen „Dabei, dabei, das geb’ ich euch dabei“ für ein paar Minuten aus.
Winnetou sang, nachdem ein junger Hauptgefreiter in Fliegeruniform kurz zuvor an ihm vorbeigelaufen war, gerade Donovans „Universal Soldier“, als Lübbert H. Saathoff vor ihm auftauchte. Lübbert hatte es einmal mehr sehr eilig. Seine kurz geschnittenen, streng nach oben gegelten, blonden Haare rochen nach Kokos, die vollen, nahezu weißen Wimpern zitterten unter der Anspannung, unter der er auch heute wieder zu stehen schien. Sie kannten sich nur flüchtig, Winnetou und er; kein Wunder, machte Lübbert doch tatsächlich den Eindruck, stets auf der Flucht zu sein. Seine gut Einmeterneunzig ließen ihn aus der Menschenmasse stets von Weitem herausragen.
Auch heute trug Lübbert wieder einen seiner dunkelblauen Anzüge, die ihn seriös aussehen lassen sollten. Winnetou wusste von Lübbert unter anderem, dass dieser gleich neben Beates DVD- und Spielzeugladen an der Older-
sumer Straße eine Werbeagentur betrieb und früher im Boxclub Norden aktiv war. Der rechte Aufwärtshaken sollte sein Markenzeichen gewesen sein. Doch nicht nur das war Winnetou bekannt. Denn dass Lübberts Firma dieses Mal offenbar endgültig vor der Insolvenz stand, hatte sich ebenso herumgesprochen wie die Kunde, dass der weißbrauige Geschäftsmann von Werbung so viel verstand wie eine ostfriesische Wallhecke von der Süddeutschen Klassenlotterie. Der Umgang mit Computern hingegen entwickelte sich im Laufe der Zeit zu seiner Paradedisziplin, weshalb für Spötter das H in Lübbert H. Saathoff nicht für Heinrich, sondern für Hardware stand – manchmal auch für Homepage.
Dieses Mal lief Lübbert nicht an Winnetou vorbei. Er quetschte sich
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