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Nore Brand 03 - Racheläuten

Nore Brand 03 - Racheläuten

Titel: Nore Brand 03 - Racheläuten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marijke Schnyder
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grünbraun gemusterte Kugel mit vier Stummelbeinen. An einer Seite hing ein menschliches Gesicht. Oben rechts schaute die Sonne lächelnd durch die Wolken. Sie trug eine grellgrüne Sonnenbrille.
    »Das ist eine schöne Zeichnung. Mach doch noch ein paar Zeichnungen. Die hängst du dann überall im Quartier auf. Irgendjemand muss ihn doch längst gesehen haben.«
    Wilma schaute sie zweifelnd an.
    »Kannst du ein …«, sie hielt inne und gab sich dann einen Ruck, »ein Sinaliment machen?«
    »Ein Sinaliment?«
    »Die Polizei macht immer ein Sinaliment, wenn jemand verlorengegangen ist«, sagte Wilma ungeduldig, »Julius hat mir das gesagt.«
    Nore Brand gab auf. Sie nickte ergeben. »Ein Signalement also. Ich will schauen, was ich tun kann.«
    Wilma atmete erleichtert aus. »Ich mache Zeichnungen, und du machst ein …«, sie zögerte kurz, »ein Signaliment.«
    Nore Brand lächelte. »Ja, das machen wir.«
    »Dominik ist etwa so groß«, erklärte Wilma und formte mit ihren Händen ein Hügelchen in der Luft. »Er ist größer als auf dieser Zeichnung. Und wenn du heute doch zu Hause bist, kannst du schon ein bisschen suchen helfen«, sagte sie. Sie drehte sich auf den Zehenspitzen und – erstaunlich, dass so etwas in diesen Basketballschuhen möglich war – tanzte die Treppe hinunter.

    Nore Brand blieb eine Weile auf der Schwelle stehen.
    Plötzlich fiel die Eingangstür mit einem lauten Krachen zu.
    Also doch kein Traum.

    »Am Samstagmorgen Kinderbesuch?«, fragte Jacques. Er saß am Küchentisch über den Laptop gebeugt.
    Sie setzte sich zu ihm.
    »Das war Wilma. Ihre Schildkröte ist verschwunden.«
    »Ihre Schildkröte? Warum kommt sie denn zu dir?«
    »Wir kennen uns ein bisschen.«
    Nore Brand legte die Zeichnung auf den Tisch. »Seit letztem Winter. Wir hatten Schnee, sogar auf den Straßen in der Stadt. Es war an einem Mittwoch, am frühen Abend, es war dunkel. Ich war auf dem Weg nach Hause. Ich hatte im Quartier zu tun. Plötzlich stolperte ich über etwas. Da saß Wilma auf ihrem Schlitten, ganz allein in der Dunkelheit.«
    Er nahm die Zeichnung auf und betrachtete sie.
    »Wenn genug Schnee liegt, dann können die Kinder schlitteln, dann wird hier im Quartier ein Weg abgesperrt. Es ist also nichts Besonderes, ein Kind auf einem Schlitten. Aber die Kleine saß reglos da, sie schaute mich nur an. Ich wollte wissen, was los ist. Es hat eine Weile gedauert, bis ich begriff. Sie konnte nicht mehr gehen. Sie sagte, dass ihre Füße eingeschlafen seien. Sie ließen sich nicht mehr bewegen. Sie saß todunglücklich auf ihrem Schlitten und schämte sich dafür, dass sie nicht mehr gehen konnte.«
    Nore Brand dachte an die Basketballschuhe. Kein Wunder, dass die Füße darin fast abgefroren waren.
    »Und dann?«
    Nore schaute ihn an. »Ich habe ihr gesagt, sie solle sich festhalten am Schlitten. Dann habe ich sie damit nach Hause gezogen.«
    Jacques schaute sie zweifelnd an.
    Nore schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, sie hat mich nicht reingelegt. Sie konnte einfach nicht mehr gehen.«
    »Und ihre Mutter?«, wollte Jacques wissen.
    »Die habe ich nicht gesehen. Als wir vor der Haustür waren, stand sie auf und ging hinein. Ich hatte das Gefühl, dass sie eine Begegnung verhindern wollte. Vielleicht war es ihr peinlich. Also ging ich wieder.«
    Jacques legte die Zeichnung wieder hin.
    »Ist das nicht seltsam?«
    »Was? Diese Zeichnung?«
    »Nein, dass du ihre Mutter nicht gesehen hast. Die Kleine hätte erfrieren können. Wenn sie das nun öfter hat?«
    Das war ihr an jenem Abend auch durch den Kopf gegangen. Es waren kalte Tage und Nächte gewesen. Der Schnee war lang liegengeblieben.
    »Ich habe mich auch gewundert. Zuerst. Ich nahm mir vor, meine Hausärztin zu fragen.«
    Sie hatte es vergessen, wie man viel zu viel vergisst, weil der Alltag sich mit nichts aufhalten lässt.
    Die Kleine war den ganzen freien Nachmittag mit dem Schlitten unterwegs, dass sie am Abend todmüde war, ist klar. Sie hat ihre Kräfte nicht eingeteilt, weil Kinder das nicht können. Und plötzlich war die ganze Energie weg, es wurde kälter und dunkel, und Wilma saß plötzlich kraftlos da, hatte kein Gefühl mehr in den Beinen und wusste nicht, was los ist. Es muss schlimm gewesen sein für sie. Dass sie sich so geschämt hat dafür, das hatte sie nicht vergessen. Warum hat sie sich für so etwas geschämt? Die arme Kleine.
    Jacques strich über ihre Hand. »Ich verstehe sie. Du hast sie damals gerettet, und jetzt kommt sie zu

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