Nore Brand 03 - Racheläuten

reagierte nicht, und Maria legte mit ihrer Lieblingsgeschichte los. Sie erzählte sie bei jeder Gelegenheit.
    Sie besaß ein Haus auf der Insel Pantelleria. Ein Onkel hatte es ihr vererbt.
    »Du kanntest ihn nicht«, fiel ihr Nore Brand ins Wort.
    »Das ist meine Geschichte!«, rief Maria mit funkelnden Augen. »Du hörst jetzt einfach zu. Ich erzähle sie dir so oft, bis du dort warst. Das weißt du.«
    Ja, es war unabänderlich. Nore Brand gab auf.
    »Der Testamentsvollstrecker«, fuhr Maria Volta fort, »so ein schauerliches Wort, war hartnäckig. Er hat mich sehr lang gesucht. Das Häuschen müsse in der Familie bleiben. Für ihn gab es nichts anderes. Ich hatte keine Wahl …«
    »… also trat ich mein Erbe an«, fiel ihr Nore Brand mit einer dramatischen Geste ins Wort.
    Maria lachte, aber sie ließ sich nicht beirren. »Ich habe es nie bereut und ich stelle mir immer vor, dass ich meine alten Tage dort verbringen werde. Weil es sich so gehört, in meiner Familie zumindest…«
    »… und der Schlüssel liegt immer bei Rosa. La parrucchiera«, warf Nore Brand ein.
    Maria blinzelte kurz. »Bitte, Eleonora, das ist meine Geschichte. Also, jeder kennt Rosa. Die Insel ist kein Paradies. In der Bucht liegen Schiffswracks von Flüchtlingen aus Nordafrika.«
    Nore Brand war nicht auf der Suche nach dem Paradies.
    Vielleicht musste sie tatsächlich einmal dorthin.
    »Die Reise dorthin ist etwas umständlich. Du fliegst nach Rom, wartest dort ein paar Stunden auf den Flug nach Palermo. Mit dem Zug fährst du weiter nach Trapani, nimmst die Fähre, und einen halben Tag später bist du auf der Insel.«
    Maria hatte ihre Hand genommen und ihr in die Augen geschaut. »Du hast dabei immer den Eindruck, dass du ans Ende der Welt fährst, aber es ist gerade noch Europa, nach mindestens 36 Stunden Reise, diese Zeit ist wichtig. Denk daran, dort bist du nicht im Paradies, du brauchst kein Paradies, so gut kenne ich dich auch, du wirst Schiffswracks sehen in der Bucht, Flüchtlingsschiffe aus nordafrikanischen Ländern.«
    Maria Volta schaute ihre Freundin prüfend an. Sie nickte. Sie schien zufrieden mit der Wirkung ihrer Worte.
    »Ich fahre nur an Ostern und Weihnachten dorthin. Im ersten Café im Hafen von Pantelleria bestellst du einen Cornetto con Crema, und der Tag ist gerettet, falls die Überfahrt eine Zumutung war. Für mich ist es immer so. Und der Mann von Rosa, ich vergesse seinen Namen immer wieder, aber er schaut, dass alles im Haus in Ordnung ist.«
    Sie lehnte sich schwärmerisch zurück. »Im Vulkansee, im Lago Specchio di Venere kannst du stundenlang im warmen Schlamm liegen und in den Himmel schauen. Deine Haut wird um Jahrzehnte jünger, das schwöre ich dir hoch und heilig.« Sie lehnte sich über den Tisch. »Der Vulkan lebt noch, sagen die Leute. Zumindest ein bisschen.«
    Nore Brand hatte Maria Volta angeschaut. Der Vulkan lebt noch. Ein bisschen zumindest.
    Ihr war, als ob Maria eben von ihr gesprochen hatte.

    E N D E

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