Nore Brand 03 - Racheläuten
bevor ich arbeiten kann. Eine kleine, notwendige, weil gemeinsame Basis ist immer von Vorteil, was sage ich da, nicht nur von Vorteil, eine absolute Notwendigkeit! Also bitte, ganz von vorn in aller Ruhe, her mit dem soliden Boden, das heißt mit sämtlichen Dokumenten, Protokollen, Grafiken, mit dem ganzen Untersuchungsmaterial, und dann beugen wir uns über das Opfer. Vielleicht ist es dann zu spät, weil der verletzte Organismus nicht Rücksicht nimmt auf solide kleine Inputs als gemeinsame Arbeitsbasis, weil das Blut einfach wegblutet und das Opfer seine Seele aushaucht, und vielleicht ist dann auch der Mörder dank Zahlen- und Grafikstudien längst über alle Berge.«
»Vielleicht«, würde der Chef entgegnen und gedankenvoll sein Haupt wiegen, »aber zumindest kann uns keiner vorwerfen, wir würden unsere professionellen Standards ignorieren.«
Nore Brand griff zur Tasse. Sie war kalt.
Auch das noch.
Plötzlich stand Jacques leicht genervt vor ihr.
»Hier. Hast du’s nicht gehört?«
Er wedelte mit dem Hörer vor ihrem Gesicht hin und her.
Es war Nino.
»Nore, hast du Zeit?«
Nore Brand atmete auf. »Immer! Leg los!«
»Also hör zu«, begann er, »ich erzähle dir etwas, und du sagst mir dann, ob ich spinne. Da gibt es eine kleine, feine Firma in dieser Stadt …«
»… ich weiß das!«, unterbrach sie ihn.
»… ganz in deiner Nähe übrigens!«
»… das weiß ich auch!«
»Kannst du nicht einfach zuhören? Diese Firma hat vor Kurzem ihre Nische gefunden. Sie kommt mit ihren Zytglogge-Miniaturen 1 im Luxusgeschäft mit Asien ganz groß raus. Nicht viele wissen davon. Außer diejenigen, die sich so etwas leisten können. Das sind voll edel ausgestattete Miniaturen. Kostbarste Materialien. Auch die astronomische Uhr läuft perfekt. Die Glocken läuten, der Bär dreht sich und so weiter. Das Ganze ist nicht viel größer als mein Daumen. Wenn er ein bisschen geschwollen wäre. Nore, ich hab’s mit eigenen Augen gesehen. Diese Miniaturen sind einfach der Hammer! Die Firma setzt voll auf Asien. Im Osten liegt die Zukunft!« Er schwieg einen Augenblick.
»Nore, sollten wir nicht auswandern? Seit vorgestern probiere ich, den Reis mit Stäbchen zu essen. Mona meint, ich spinne. Aber ich werde das schon noch lernen.«
Nore Brand war aufgestanden.
»Nino, komm endlich zur Sache!«
»Okay. Also, was ich dir sagen will: Der neue Finanzmensch dieser Firma soll sich umgebracht haben!«
»Das habe ich auch gehört.«
Nino schwieg einen Moment. »Ja, stimmt. Von mir zufälligerweise. Aber höre jetzt mal genau zu.«
»Ich tue ja nichts anderes!«, rief sie entnervt.
»Stell dir vor, du wärst jung …«
Jung? Nein, leider nicht mehr möglich.
»… und du beginnst dein Arbeitsleben in einer Firma, die eben dabei ist, sich zu überschlagen vor lauter Erfolg. Kannst du dir das vorstellen?«
»Nein, natürlich nicht!«
»In einer Zeit voller Wirtschaftskrisen dreht doch so ein Kerl völlig durch vor Glück. Im richtigen Moment am richtigen Platz, und jeden Abend ein Bad in den Goldtalern! Auch wenn er Federico Meier heißt und nicht Dagobert Duck.« Nino Zoppas Stimme überschlug sich vor Spott und Hohn. »Und unser Mister Police Academy folgert messerscharf: Selbstmord wegen Depressionen!«
Wer den Fall verfolgt hatte, musste zweifeln. Doch die Hinweise ließen diese Interpretation zu. Trotz der Abneigung, die sie für diesen Neuling empfand, diesen Mister Police Academy.
Sollte sie denn, verdammt noch mal, alle Kerle ins Herz schließen, bloß weil sie jung, hirnlos und unerfahren waren?
»Der Chef will, dass ich ein bisschen dranbleibe. Ich soll mich umsehen und so. Diskret, aber mit seinem Segen.« Nino Zoppa lachte. »Und«, er machte eine kleine Kunstpause, »er hat sich eben nach dir erkundigt.«
»Nach mir?«
»Ich habe ihm erklärt, dass du dich auf deine Fortbildung freust. Du hättest sogar davon geredet, eine Auszeit zu nehmen für ein paar Semester Kriminalistik.«
»Nino, spinnst du?«
Nino Zoppa lachte lautlos. »Zuerst war er sprachlos, aber er meinte daraufhin, du seist auch so eine gute Polizistin.«
»So, und soll ich mich jetzt freuen?«
»Klar. Der glaubt schon lang nicht mehr, dass du tust, was er verlangt.«
Nore Brand schaute in den Garten hinunter. Hecke, Laubbäume und Sträucher waren noch grün; der Sommer hatte sich mit Hitze und Trockenzeiten sehr zurückgehalten. Aber man konnte den Herbst seit ein paar Tagen riechen, morgens und abends.
»Und was tust
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